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ELISABETH HOLZLEITHNER
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dafür, eigene Bedürfnisse und Empfindungen zu entwickeln, sie ernst zu neh-
men, zu artikulieren und daraufhin zu handeln.
Das Recht auf Bildung ist international gut verankert. Es findet sich u.a. in
Art. 29 Abs. 1 lit. a der UN-Kinderrechtskonvention (KRK)17 und postuliert
als Ziel, »die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen
Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen«. Im Zuge dessen steht
Kindern auch das Recht zu, ihre Herkunftskultur vermittelt zu bekommen und
daran teilhaben zu können (Art. 29 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 30). Überdies
findet sich die Verpflichtung, »wirksame und geeignete Maßnahmen [zu tref-
fen], um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich
sind, abzuschaffen«.
Die KRK ist demnach von der Einsicht getragen, dass es zwischen dem
Recht auf Bildung, körperlicher und geistiger Integrität sowie den Ansprü-
chen, die im Namen einer Kultur, aber auch aus sozialen oder ökonomischen
Gründen an ein Kind gestellt werden, ein gewisses Spannungsverhältnis ge-
ben kann. Wenn Kinder arbeiten gehen müssen oder wenn sie schon früh-
zeitig verheiratet werden, sind die Chancen auf eine optimale Entwicklung
und Entfaltung gering. Eine Verheiratung bereits im Kindesalter bedeutet
häufig nicht nur das Ende von Bildung und Ausbildung, sondern ist vielfach
mit sexuellem Missbrauch verbunden, gerade wenn ein Mädchen mit einem
wesentlich älteren Mann verheiratet wird (Innocenti Digest 2001). Damit wird
eine wesentliche Voraussetzung der Entwicklung intellektueller Fähigkeiten
abgeschnitten, meist in einem Kontext, der zu emotionalen Versehrungen
führt.
Mit Blick auf die Entwicklungsdimension von ›Autonomie‹ wird in An-
schluss an Ausführungen Joel Feinbergs (1980) auch vom Recht eines Kinds
auf eine ›offene Zukunft‹ gesprochen. Feinberg möchte damit das Recht von
Kindern zum Ausdruck bringen, dass ihr Bereich von Lebensmöglichkeiten
nicht in unzulässiger Weise frühzeitig eingeschränkt wird, indem ihnen wert-
volle Lebensoptionen von vornherein vorenthalten werden. Das Recht eines
Kindes darauf, dass seine zukünftige Autonomie geschützt wird, erlegt dem
Handeln der Sorgeberechtigten Beschränkungen auf; sei es, dass sie dazu an-
gehalten sind, bestimmte Entscheidungen für ein Kind nicht zu treffen oder
dass sie im Gegenteil dazu verpflichtet sind, bestimmte Handlungen zu
setzen, die die Freiheit eines Kindes momentan einschränken, damit aber er-
möglichen, dass das Kind später autonom sein kann (Feinberg 1980: 78) –
wie das bei vielen Kindern bekanntlich nicht sehr beliebte sie in die Schule
schicken. Wird nun möglicherweise durch den Zwang zum Kopftuchtragen
bereits in jungen Jahren die (zukünftige) Autonomie auf unzulässige Weise
17 »Convention on the Rights of the Child«, New York, 20.11.1989, abrufbar:
http://www.unhchr.ch/html/menu3/b/k2crc.htm, 31.07.2008.
Der Stoff, aus dem Konflikte sind
Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Title
- Der Stoff, aus dem Konflikte sind
- Subtitle
- Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Authors
- Sabine Berghahn
- Petra Rostock
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2009
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-89942-959-6
- Size
- 14.7 x 22.4 cm
- Pages
- 526
- Keywords
- Religion, Migration, Geschlechterverhältnisse, Demokratie, Rechtssystem, Politik, Recht, Islam, Islamwissenschaft, Gender Studies, Soziologie, Democracy, Politics, Law, Islamic Studies, Sociology
- Category
- Recht und Politik