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Französische Revolution
ischen Nationen entscheidend umgestalten. Nachdem
das revolutionäre Frankreich mit großen Opfern – der
Terror der Guillotine 1792–1795 – die liberalen Rechte
für das Individuum – die Menschenrechtserklärung
von 26. August 1789 – durchgesetzt und sich der rest-
riktiv eingreifenden Feudalmacht entledigt hatte, stand
der ökonomische Liberalismus – nicht zu verwechseln
mit seinem Ursprung, dem Kapitalismus, welcher be-
reits mit Beginn der europäischen Kolonialisierung im
15. Jh. und Versklavung der afrikanischen Bevölkerung
ab dem 16. Jh. begonnen hatte – in seinen Startlöchern.
Das Zeitalter der Großbourgeoisie, der industriellen
Revolutionen und der sozialen Klassenkämpfe war an-
gebrochen.
Die Analyse der F. R. als historisches Phänomen
erlaubt zwei grundverschiedene Zugänge : Der erste,
weitverbreitete Ansatz stellt die F. R. und ihre ideellen
Nachwirkungen in einen gesamt-europäischen Kontext.
Der zweite Ansatz, welcher verstärkt in französischen
Geschichtsbüchern zu finden ist, konzentriert sich auf
das Erforschen nur bedingt zusammenhängender Er-
eignisse, welche Wechselwirkungen erzeugten, die den
Beginn und den Verlauf der F. R. bestimmten und ihr
Einzigartigkeit im welthistorischen Kontext verliehen.
Diesem Gedanken folgend ist der Unterschied zwi-
schen niedergeschriebener und gelebter Geschichte
bedeutend, denn während die geschriebene Geschichte
großzügig mit philosophischen, sozial-politischen und
verklärenden Interpretationen ausgeschmückt wird,
kann die erlebte Geschichte als ein »sich ereignender«
Sachverhalt bloß objektiv festgestellt, recherchiert und
in einen wertefreien Zusammenhang gebracht werden.
Die französische Geschichtsschreibung nutzt beide
Ansätze, orientiert sich jedoch verstärkt an der Sach-
verhalt- bzw. Faktenklärung, wenn es darum geht, den
Entwicklungsprozess der F. R. herauszuarbeiten. Die
einzelnen Ereignisse werden in eine logische Sukzes-
sion gebracht und niemals aus dem Kontext gerissen.
Somit sind die europäischen Nachwehen, welche die F.
R. nach sich zog, für den Verlauf ihrer »eigenen« Ge-
schichte unbedeutend und aus diesem Grund aus ihrer
Nacherzählung auszuschließen.
Für die Aufarbeitung der Historie der F. R. ist das
Hervorheben der sozio-politischen Gegebenheiten im
vor-revolutionären Frankreich entscheidend.
Im Vorfeld der F. R. befindet sich Frankreich in einer
schweren Finanzkrise, deren Auswirkungen sich unter
allen drei Gesellschaftsständen – der Aristokratie, dem
Klerus und dem dritten Stand der Werktätigen – spür- bar machen. Die Staatskassen sind leer und die Monar-
chie sucht nach einem Weg aus dem Ruin.
Die von Calonne geplante Revision des Steuerge-
setzes stieß hauptsächlich innerhalb der Aristokratie
auf starken Widerstand. Diese war nicht bereit, ihre
Privilegien aufzugeben, um den Staatsbankrott abzu-
wenden. Nach Souboul sahen Calonne und Lomé-
nie de Brienne in der Errichtung der Steuergleichheit
das einzige Heilmittel gegen die Finanzkrise der Mo-
narchie. Die in Paris vereinte »Notablenversammlung«
des adeligen Standes legte im Herbst 1788 ein Veto
gegen die königliche Revision des Steuerrechts ein und
widersetzte sich damit erfolgreich ihrer Hoheitsgewalt.
Der französische Romantiker Chateaubriand
schrieb dazu : »Die Patrizier begannen die Revolution ;
die Plebejer vollendeten sie« (Soboul, 2000, 15). Da
sich die Aristokratie und der Klerus geweigert hatten,
ihren Teil zur Staatssanierung beizutragen, und sich
damit gegen den Beschluss des absoluten Monarchen
aufgelehnt hatten, folgte vonseiten des Dritten Stan-
des eine Welle der Empörung. Diese richtete sich als
Erstes gegen die arbiträre Monarchie, die eine solche
Ungerechtigkeit duldete, und darauf folgend auch ge-
gen die privilegierten Stände. Der Dritte Stand machte
immerhin 96 Prozent der damaligen Bevölkerung aus
und setzte sich aus Bauern, Handwerkern, der Handels-
bourgeoisie bis zur hohen Finanzbourgeoisie – welche
sich in Bildung und Lebensstil kaum mehr von der
hohen Aristokratie unterschied – und allen restlichen
Schichten der französischen Gesellschaft zusammen.
Diese waren gezwungen, die Last der Finanzkrise al-
lein zu tragen, und besonders stark traf dies die ärmste
und breiteste Schicht des Dritten Standes. Aufgrund
von »[…] Missernten und […] – [der] – sich daraus
zwangsläufig ergebenden Wirtschaftskrise […]« (So-
boul, 2000, 21) verbreitete sich unter der Bevölkerung
eine Hungersnot. »Die städtischen und ländlichen
Volksmassen sind 1789 keineswegs durch die aufrüh-
rerischen Umtriebe der Bourgeoisie (welche sich seit
Längerem aus der absolutistischen Wirtschaftsordnung
zu befreien wünscht) in Bewegung gesetzt worden […]
Aufgelehnt haben sie sich vielmehr aus Hunger : eine
unbezweifelbare Wahrheit, die Michelet mit Nachdruck
hervorhebt (›Ich bitte Euch, schaut es Euch an, dieses
auf bloßer Erde liegende Volk, armer Hiob […]‹) Der
Hunger ist eine Tatsache der staatlichen Ordnung : man
hat Hunger im Namen des Königs« (Soboul, 2000, 27).
Soboul zufolge führte die Ernährungskrise zu
Elend, Unterkonsumption, zu Schrumpfung des Ar-
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Volume 1: A – I
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Subtitle
- Von den Anfängen bis 1942
- Volume
- 1: A – I
- Authors
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Size
- 24.0 x 28.0 cm
- Pages
- 542
- Categories
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur
Table of contents
- Geleitwort von Ana Blatnik, Präsidentin des Bundesrates (Juli – Dezember 2014) 7
- Spremna besede Ane Blatnik, predsednice državnega sveta (julij – december 2014) 8
- Geleitwort von Johannes Koder 9
- Vorwort der Herausgeberin und des Herausgebers 11
- Einleitung – slowenische Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška 15
- Alphabetische Liste der AutorenInnen/BeiträgerInnen im vorliegenden Band 38
- Verzeichnis der Siglen 40
- Verzeichnis der Abkürzungen und Benutzungshinweise 46
- Editoriale Hinweise 51
- Lemmata Band 1 A – I 55