Page - 902 - in Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška - Von den Anfängen bis 1942, Volume 2 : J – Pl
Image of the Page - 902 -
Text of the Page - 902 -
902
Miklosich, Franz Xaver Ritter von
Franz Miklosich, Archiv Katja
Sturm-Schnabl
kannte er die tiefere, emotionale Bindung zur Mutter-
sprache. Dies hat sein Verständnis für linguistische Fra-
gen geschärft und seine Bewusstheit für die Bedeutung
und den Wert der eigenen Sprache gestärkt.
Bereits in Graz engagierte er sich im Kreis der slo-
wenischen und slawischen Studenten, die im Geiste
der Illyrischen Bewegung (→ Illyrismus) ihre intellek-
tuellen Kräfte für die Affirmierung ihrer Mutterspra-
che einsetzten und bemüht waren, dieser den Weg zur
Anerkennung und Gleichberechtigung zu ebnen. Diese
Gruppe plante →
Almanache, hatte Grammatik- und
Poetikprojekte, beteiligte sich am Diskurs um die slo-
wenische Schriftsprache und um das slowenische Al-
phabet, lernte gezielt fremde Sprachen : slawische und
romanische, las fremde Literaturen, d. h. man schüttelte
das binäre Modell deutsch/slowenisch ab und schlug
den Weg der sprachlichen und kulturellen Pluralität
ein (→ Relevanz/Redundanz).
In Graz studierte M. an der Universität Philoso-
phie und Jus, supplierte zudem bereits Philosophie und
wurde 1838 zum Dr. phil. promoviert. Er bewarb sich
erfolglos um eine Philosophieprofessur in Innsbruck,
worauf er nach Wien ging, wo er 1840 das Jusstudium
mit dem Dr. iur. abschloss.
Sein Engagement für seine kulturelle und sprachliche
→ Identität als Slowene führte ihn zu Jernej → Kopi-
tar. Dieser war 1838 bereits anerkannter Slawist und
Publizist, der sich bereits ein Netzwerk von Gleichge-
sinnten geschaffen hatte, mit denen er in ständigem
Meinungsaustausch stand. (→
Zois, → Dobróvsky,
→ Vostokov, Nadeždin, Karadžić, Grimm u. a.).
Der Umgang mit Kopitar verschaffte M. den Zugang
zur Hofbibliothek und deren slawischen Beständen
und so konnte er sich zum slawischen Philologen und
Sprachwissenschaftler entwickeln. M. seinerseits voll-
zog einen qualitativen Sprung : Die Bemühungen um
die Affirmation der kulturellen und sprachlichen Iden-
tität der slawischen Völker in der Habsburgermonar-
chie machte er zu einem gesellschaftspolitischen und
wissenschaftlichen Anliegen. Die Revolution des Jah-
res 1848 ermöglichte die Gründung von akademischen
Vereinen (→ Revolutionsjahr 1848). M. wurde Präsi-
dent des ersten slowenischen akademischen Vereines
Slovenija und ist auch der Autor des ersten Manifes-
tes, in welchem ein Vereintes Slowenien gefordert wird
(→ Zedinjena Slovenija). Er wurde zum Übersetzer des
→ Reichsgesetzblattes ins Slowenische ernannt, das
im Zuge der Umsetzung der → Oktroyierten März-
verfassung u. a. auch in den slawischen Sprachen der Monarchie erschien. In der Untersteiermark/Spodnja
Štajerska kandidierte er für den Reichsrat und wurde in
diesen gewählt. Als Abgeordneter im Reichsrat setzte
er alles daran, für die slowenische Sprache mehr Öf-
fentlichkeitsfunktion zu erreichen, sie vor allem in den
Schulen einzuführen (→ Schulwesen, → Amtssprache).
Die dazu benötigten slowenischen → Schulbücher,
→ Grammatiken, Wörterbücher wurden zu seinem
Anliegen und Kernpunkt seines politischen Engage-
ments für Sprache und Kultur. Sie sind das erste slowe-
nistische Programm überhaupt.
Als Abgeordneter im Reichsrat nutzte er seine Kon-
takte und erreichte im April 1849 noch während der
Reichsrat in Kromeřič (Kremsier) tagte, die Errichtung
einer Lehrkanzel für die slawischen Sprachen (Slawis-
tik) an der Universität Wien. Es sei hervorgehoben,
dass das Dekret zur Errichtung der Lehrkanzel und
das Ernennungsdekret zum Professor für M. in einem
Dokument zusammengefasst und vom Kaiser Franz
Josef I. unterzeichnet wurden. Bereits 1851 wurde M.
korrespondierendes Mitglied der kaiserlichen Akade-
mie der Wissenschaften und 1851 deren wirkliches
Mitglied. 1864 wurde M. in den erblichen Ritterstand
erhoben, 1862–1865 war er Mitglied des Herrenhauses.
Im Laufe seiner Karriere wurde M. von fast allen euro-
päischen wissenschaftlichen Akademien, Gesellschaf-
ten und Universitäten zum korrespondierenden (zum
korr. Mitglied der Russischen Akademie der Wissen-
schaften wurde M. auf Vorschlag I. I. → Sreznevs-
kijs bereits 1857 gewählt) bzw. Ehrenmitglied ernannt
(Sturm-Schnabl : Franz Miklosich im Lichte seiner
Lebensdokumente, 1991).
M. zählte zu den größten slowenischen und europä-
ischen Forschern seiner Zeit, der an der Wende vom
humanistischen Universalisten (französisch »savant«)
zum modernen positivistischen Wissenschafter (fran-
zösisch »chercheur«) stand und beiden verpflichtet war.
Seine visionären und modernen Ansätze der Philologie
machten ihn zu einem bis heute gesellschaftsrelevanten
Wissenschaftler in Bezug auf Fragen der Integration.
M. war einer jener Wissenschafter, der, ohne seine
slowenische nationale Kultur- und Sprachidentität zu
verleugnen, zu einem Europäer wurde. Die eigentliche
Qualität der europäischen Kultur sah er in der Vielfalt
und in den Interferenzen der europäischen Sprachen,
Literaturen und Kulturen, d. h. transkulturell. Dabei
behandelte er alle Sprachen, Literaturen und Kulturen
mit gleichen Wertmaßstäben, ohne Rücksicht auf ihre
Quantität oder öffentliche Funktion.
Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
Von den Anfängen bis 1942, Volume 2 : J – Pl
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Enzyklopädie der slowenischen Kulturgeschichte in Kärnten/Koroška
- Subtitle
- Von den Anfängen bis 1942
- Volume
- 2 : J – Pl
- Authors
- Katja Sturm-Schnabl
- Bojan-Ilija Schnabl
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79673-2
- Size
- 24.0 x 28.0 cm
- Pages
- 502
- Categories
- Geographie, Land und Leute
- Kunst und Kultur