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Das unterste Fähnchen hat deren am wenigsten, je weiter nach oben, desto reicher sind sie
bedacht, aber das Nonplusultra ist der Wipfel. So steht der Baum auf dem Platze vor
dem Wirthshause schon am Sonntagmorgen.
Ist der Nachmittag gekommen und der „Segen" in der Kirche, in der sich heute
ungewöhnlich viele Andächtige eingefunden haben, aus, so versammeln sich alle Leute aus
der Pfarre und der Nachbarschaft um den Kletterbanm.
Mittlerweile haben sich auch jene eingefunden, welche den Versuch machen wollen,
sich eines von den lockenden „Besten" herabzuholen. Es sind lauter junge Bürschchen von
fünfzehn oder sechzehn Jahren, die sich jetzt im Dienst bei verschiedenen Baueru befinden,
frisch und gesund und wohl auch schon keck genug, einen verwegenen Streich auszuführen.
Sie haben sich aller unnöthigen Kleider entledigt, nur Hemd und Hose haben sie an. Auch
die genagelten Schuhe habeu sie ablegen müssen, denn diese würden ihnen das Klettern zu
sehr erleichtern. Jeder hat aber ein Säckchen mit Asche um den Leib gebnnden, um beim
Klettern den allzu glatten Banm damit zu bestreuen. Nun macht eiuer von ihnen den
ersten Versuch. Fest klemmt er den Baum zwischen die Schenkel und hebt mit der Kraft
der Arme den Körper an demselben empor, während er zugleich fleißig von der mit-
genommenen Asche Gebrauch macht, aber er kvmmt nicht weit; vier bis fünf Meter hoch hat
er sich hinaufgearbeitet; jetzt geht es nicht mehr; der Baum ist allzu glatt, — im Nu
ist er unten, empfangen vom schallenden Gelächter aller Anwesenden. Ein Zweiter, ein
Dritter macht den Versuch. Höher und höher klimmen sie am Stamme empor; aber keiner
vermag es, auch nur das unterste Fähnchen zu erreichen; immer rutschen sie, noch ehe sie
am Ziele sind, wieder urplötzlich herab. Aber jetzt der Vierte riugt sich rasch empor; schon
hat er die halbe Höhe des Baumes unter sich; lante Zurufe ermuthigeu den kühnen Steiger,
da — zerreißt ein Hosenträger. Doch das hindert ihn nicht; rasch nestelt er denselben los
und wirft ihn auf das laut lachende Publieum hinab. Vorwärts arbeitet er wieder; schon
ist er nur mehr ein Meter von den Fähnchen; da — zerreißt auch der zweite Hosenträger,
er muß den Versuch ausgeben nud das Lachen und Spotten der Zuschauer statt des
„Bestes" hinnehmen. Rasch verschwindet er aus der Menge. Dem Fünften gelingt es
endlich, das erste Fähnchen zu erreichen; mit raschem Griff hat er es losgemacht; schon
streckt er die Hand nach dem zweiten; da verlassen ihn die Kräfte; er mnß sich mit dem
einen Fähnchen beguügeu und am Stamme heruutersahren. Lauter Beifall begrüßt ihn.
Dieser Erfolg steigert den Eifer der übrigen Kletterer zu unaufhaltbarem Feuer an; sie
holen das zweite, dritte nnd vierte Fähnchen herab.
Aber uoch ist das Hauptbeste, der Wipfel, oben am Baum; die Kräfte der meisten
Kletterer sind derartig erschöpft, daß sie sich gegenseitig kleinlaut aublickeu. Auch ist der
Baum dort oben so dünn, daß er bedenklich hin und herschwankt, wenn einer sich dem
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Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Oberösterreich und Salzburg, Volume 6
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Oberösterreich und Salzburg
- Volume
- 6
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1889
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 17.03 x 24.86 cm
- Pages
- 650
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch