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Täuschung, sondern Wirklichkeit, eine auch für uns Sterbliche zugängliche Welt! Sei nns
gegrüßt, du erhabene majestätische Tatra! Sei uns gegrüßt, du Königin in deinem
schneeigen Hermelinmantel, du granitenes Denkmal der entfernten Urzeit, du Thron des
Allmächtigen!
Vor der kühnen zerrissenen Mauer der Tatra breitet sich die ernste, waldige Hoch-
ebene, das sogenannte Podhale (60(1 bis 1000 Meter über dem Meere) aus. Drei schöne
Flüsse, der Schwarze und der Weiße Dunajec und die Biakka winden sich in Silber-
bändern zwischen den Hügeln und bilden bei ihrer Vereinigung den mächtigen Duuajecsluß,
dessen Fluten zu unseren Füßen die rothen Felsen der Klippe in schäumender Brandung
zu zertrümmern drohen. Im Westen erhebt sich aus dem nackten Kamm der Beskiden die
ehrwürdige Babia Gora, die in den Volksliedern der Maznren eine so wichtige Nolle
spielt. Die schmale Zone der Klippenkalke sieht wie ein rauhes, stacheliges Band ans, das
mitten durch die sanfte, friedliche Gegend gezogen wnrde.
Mit schwerem Herzen verlassen wir die altehrwürdigen Ruinen von Niedziea und
verfolgen unseren Weg längs des Dunajec in der Richtung nach dem Tatragebirge. An
dem interessanten, über 400 Jahre alten Kirchlein aus Lärchenholz, das mit seinem schönen
Spitzbogenstil und einigen Alterthümern eine wahre Sehenswürdigkeit der kleinen Ortschaft
Dxbno bildet, gelangen wir in circa zwei Stunden nach Nowytarg (Nenmarkt), der
Metropole von Podhale, die bereits im XIII. Jahrhundert gegründet wurde. Unser Ziel
bildet jedoch die weiter im Süden am Fuße der Tatra gelegene berühmte Ortschaft
Zakopane, ein klimatischer Cnrort ersten Ranges. Wiedas öfters beim Herannahen an
ein hohes Gebirge zu geschehen pflegt, verschwindet auch hier auf unserem Wege von
Neumarkt nach Zakopane die schöne Kette des Tatragebirges fast vollständig, und erst
unmittelbar vor der letztgenannten Ortschaft erscheinen der zackige, zerklüftete Giewont
(1900 Meter) und seine Nachbarspitzen in ihrer ganzen Pracht.
Der Anblick der Ta t ra ist in jeder Beziehung sehr merkwürdig. Es ist ein Gebirge
im Gebirge, das ganz unvorbereitet auftritt. Die nördlich vorgelagerten Karpathensand-
steinmassen des Podhale sind so wenig intensiv gefaltet und erhoben, daß sie gegenüber
den circa 2 bis über 2'/- tausend Meter hohen Spitzen und Ketten als ein Tiefland einen
anffallenden Contrast bilden. Noch imposanter ist der Anblick vom Süden aus, wo die
höchsten Spitzen der Tatra wie eine drohende Mauer unmittelbar aus der Tiefe der Zipser
Ebene aufsteigen. Wir haben da eine kleine geologische Welt vor uns, die ein Analogon
der Centralmassen der Alpen darstellt. Wir finden nämlich in den Westalpen (namentlich
aber in der Schweiz und in Frankreich) inselsörmige „Centralkerne", so z. B. Montblanc,
Finstcraarhorn n. s. w. aus altkrystallinischen Gesteinen (Granit, Gneiß n. s. w.)
angebaut, mit vorgelagerten Schichten der paläozoischen Formationen, die langsam in die
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch