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Kirchhof zu gehen und am Grabe der Mutter Zuflucht zu suchen. Sie wird es finden, denn
es wachsen darauf drei Zweiglein. Eines soll sie ausreißen und es über dem Grabe schwenken,
da wird sich die Mutter sicherlich melden. Die Mutter hat sie gehört, und, als sie erfahren,
daß es ihre Tochter sei, meint sie, sie würde dieselbe gerne in ihrem Grabe aufnehmen,
doch weiß sie nicht, wovon das arme Kind im Grabe leben könnte. Die Waise versichert
ihr, sie werde Würzelchen essen, durch Gottes Gnade leben. Die Mutter ist nun soweit
beruhigt, sie wünscht nur, daß die nene Mutter dem Kinde das Hemdchen wasche.
Das erschütternde Bild ihres Elends jedoch, wie es die kleine Waise schildert, überzeugt die
Mutter bald, daß diese die Stiefmutter vergeblich bitten würde. Da erscheinen drei Engel,
welche das Waisenkind in den Himmel führen, während gleichzeitig der Teufel kommt,
um die Stiefmutter hinter die Höllenpforte zu bringen. Nun:
„Die Stiefmutter schauet herum weit und breit,
Da sieht sie die Waise im Himmel schon weit; Da schauet die Wais' in die Höll' weit und breit,
Die Stiefmutter sieht sie tief unten zur Zeit."
Nun verlangt die Stiefmutter heftig, zur Erde zurückzukehren, sie würde nun ganz anders
mit dem Stiefkinde verfahren, das ist aber vorbei. Das Lied schließt mit den Worten:
„Umsonst ist's. Du Böse! so rechne Du nicht! ! Doch Dil hast der Waise nur Böses gethan.
Das Kindlein zu pflegen, war früher Dir Pflicht; Darum in der Hölle, so brenne fortan."
Unter den frommen Liedern sind die Xolenäx, das heißt die Lieder, welche die
Geburt des Herrn besingen, wahre Schätze der Volkspoesie; und zwar nicht etwa durch
die Vortrefflichkeit ihrer Form, denn gerade die manchmal bis zur äußersten Grenze
gehende Einfachheit ist ihr besonderes Merkmal; auch nicht durch das Außergewöhnliche
ihres Inhaltes, denn es sind gar keine außergewöhnlichen Ideen darin zu finden, sondern
dadurch, daß sie zugleich religiös und volksthümlich sind. Ein heißer, naiv-kindlicher
Glaube hat hier jener jugendfrischen Poesie, welche zum erstenmal in die Gotteswelt
heraustritt, die Hand gereicht, um mit ihr vereint ein Bild des Charakters, Lebens und
Denkens eines Volkes zu schaffen. In diesen Liedern ist alles, von der Melodie angefangen
bis in das kleinste Detail herab, polnisch, sogar die Allerheiligste Familie, wie sehr sie
auch von göttlicher Majestät umflossen ist; wie ist es erst das Ställchen, in welchem der
Heiland das Licht der Welt erblickt, wie sind es erst die Leute, welche mit Spenden
herankommen, den neuen Herrn zu begrüßen, ihre Gaben, und ihre Lieder!
Es bricht die Nacht herein, in welcher die „Lilie, die unbefleckte Maria, erblühen
soll". Die Familie ist auf der Wanderung; der heilige Josef eilt, allein Maria bittet ihn,
langsamer zu gehen. Endlich geht der Alte voraus, sich um eine Herberge umzusehen und
nimmt einen Krug für Wasser mit. Allein weder eine Herberge noch Wasser wird ihm zu
Theil und obendrein wird er gescholten und beschimpft. Josef, das Alterchen, neigt kummer-
voll sein graues Haupt und weiß nicht was anzufangen, bis endlich ein Bürgersmann
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch