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Fastenzeit vor Weihnachten (pMpivvka) stattfinden. Der Spinnrocken ist sozusagen die
Eintrittskarte zu diesen Versammlungen, an welchen Frauen und Mädchen theilnehmen,
und das Spinnen bildet die Hauptbeschäftigung. Allein es kommen auch Männer und
insbesondere Junggesellen herein. Es werden nun Märchen und Sagen vorgetragen,
Lieder gesungen, Räthsel gelöst und verschiedene heitere Geschichten erzählt. Die
Zusammenkünfte werden gewöhnlich bei einer Witwe oder bei einer guten Nachbarin
veranstaltet und die Theilnehmer haben selbst für Beleuchtung und Bewirthung zu sorgen.
In die Zeit dieser Abendunterhaltungen fällt der Tag des heiligen Andreas, des
Mädchenpatrons. Am Vorabende versammeln sich die Mädchen allein, um ihre Zukunft zu
erforschen. Zu diesem Zwecke bringen sie etwas Mehl, backen daraus kleine Brödchen
(datsdus?!^), stellen dieselben hierauf in Reihen auf einen Tisch in der Mitte der Wohn-
stube auf und lassen dann einen Hund herein. Wessen Brödchen derselbe zuerst packt, die
wird früher heiraten als die anderen. Man pflegt auch geschmolzenes Wachs aufs Wasser
zu gießen und aus der Gestalt der daraus gebildeten Figuren verschiedene Zukunftsschlüsse
zu ziehen. Nachdem sie noch verschiedene Weissagungen angestellt haben, gehen sie spät
Abends auseinander und binden von Zaun zu Zaun, von Geländer zu Geländer Schnüre
an, lauern dann in einem Versteck; wenn Jemand darüber fällt oder sich darin verwickelt,
so werden daraus ebenfalls verschiedene Schlüsse gezogen.
Der St. Andreasabend bildet den Schluß der fröhlichen Abendversammlungen der
Dorfjugend im Herbste, und zum Danke für die Gastfreundschaft der Frau, iu deren Hause
dieselben stattgefunden, veranstalten die Besucher einen Schmaus (komüsönia).
Volkslieder.— DieRuthenen sind neben den Serben ohne Zweifel das gesangreichste
slavische Volk. Sein Gemüth, sein Leben und Weben, seine ganze geistige Schöpfungskraft
hat der Rutheue im Liede lebendig und wahr zum Ausdruck gebracht. Das Innerste
der Seele des rutheuischen Volkes offenbart sich in rührenden Liedern und Gesängen, in
anziehenden Sagen, Überlieferungen und Erzählungen, welche von Geschlecht zu Geschlecht
fortleben. Wenn Goethe sagt, daß die Bildsäulen versteinerte Töne sind, so kann man mit
Recht sagen, daß das schöpferische Talent des rnthenischen Volkes im Liede und dem dasselbe
begleitenden Gesang zerflossen ist. Nur auf diese Art läßt sich die unerschöpfliche Reich-
haltigkeit der so herrlichen Früchte, welche die rnthenische Volkspoesie gezeitigt hat, erklären.
Haus und Hof, Wald und Flur, Berg und Thal ertönt von Liedern in den Landen
des rutheuischen Volkes. An der Wiege und am Sarg, in Freud und Leid, bei allen
Volkssitten und Bräuchen, im Krieg und Frieden ergießt sich das Gefühl des Rnthenen je
nach den Verhältnissen und Seelenstimmnngen in Liedern und Gesängen. Es hat sich auf diese
Art eine sehr reichhaltige Volkspoesie im Volksmnnde ohne Feder und Papier herausgebildet,
eine Poesie dem Namen nach unbekannter Dichter, deren Schöpfungen durch Überlieferung
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch