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in Polen nnd Rußland, in Rumänien und Ungarn. Dort leben sie in großen compacten
Mengen, eine Welt für sich bildend, als Nation mit eigener Sprache, die sie aus ihrer
früheren deutschen Heimat mitbrachten, und eigener aus dem XIV. Jahrhundert ererbten
und zähe beibehaltenen, durch Verjährung ihnen fast religiös ehrwürdig gewordenen Tracht.
Merkwürdigerweise ist die allgemein bei den Juden in den slavischen Ländern im Gebrauch
stehende Umgangssprache die eines Volkes, das ihnen die schwersten Leiden zufügte
und die so rigoros gehütete Tracht dieselbe, die ihnen vor etwa einem halben Jahrtausend
aufgezwungen wurde! Sie besteht bei Männern aus Schuhen und Strümpfen, kurzen
unterhalb der Knie gebundenen Hosen, einem langen schwarzen Kaftan mit Gürtel, einem
Sammtkäppchen, das auch im Schlafe nicht abgelegt wird, auf dem Kopfe, der beim
Ausgehen mit einer hohen Pelzmütze nach Perserart bedeckt wird. Über diesen Kleidern
trägt man bei feierlichen Anlässen im Sommer einen schwarzseidenen Talar, im Winter
einen Pelz. Die Frauen tragen über dem knappen Kleide eine Spitzenschürze, auf der
Brust ein rothes, goldgesticktes Plastron aus Atlas oder Sammt, nm den Hais eine
fältige Krause und auf dem kurzgeschorenen oder rasirten Haupte über färbiger Haube von
tiefer Form eine Art Halbkrone aus Perlen und Edelsteinen. Diese ganze, bereits im
Schwinden begriffene Tracht ist äußerst decent und möglichst unkleidsam.
Was noch wesentlich dazu beitrug die polnischen Juden in einer mumienhaften
Starrheit zu halten, waren die cultnrellen Verhältnisse im Lande. Der gebildete Adel, der
stets eine exceptionelle Stellung einnahm, hielt sich fern; der slavische Bauer ist unwissend;
der geringe Bürgerstand verhielt sich aus Gründen des Erwerbes und der Concurrenz
den Juden gegenüber feindlich, so daß diesen jede Anregung von außen wie jede innere
Neigung fehlte, aus den zum Theile selbst gezogenen Schranken herauszutreten. In
fortwährendem Kampfe mit dem Leben ruhten sie in der Idealwelt, in der Familie und
Synagoge aus, betrieben mit großem Eifer das Studium von Bibel und Talmud, ohne
die Befreiung des Geistes von den engen Fesseln anzustreben, während sich anderseits die
Regierungen um die geistige Hebung der Juden nicht viel zu kümmern pflegten. So war
es bis zur Regierungszeit Kaiser Josef II. Dieser edle Herrscher war bestrebt, die unter
seinem Scepter lebenden Juden aus ihrer Lethargie aufzurütteln und sie einem menschen-
würdigen Dasein zuzuführen; doch scheiterten manche der bestgemeinten Maßregeln an der
Macht der Verhältnisse und an der Zähigkeit, mit der die galizischen Juden an den
Herkömmlichkeiten festhielten, so daß nur das erreicht wurde, was sich durch äußere
Nöthigung erreichen ließ. So wurden sie auch zur Annahme fester Familiennamen
verhalten. Bis dahin machten sie sich durch Beisetzung des Namens des Vaters und
zuweilen, zur genaueren Jdentificiruug. auch des Geburts- oder Wohnortes kenntlich;
wie: Abraham ben Jakob Sassower, das heißt Abraham der Sohn Jakobs aus Sassöw.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch