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ein Mann von vielem talmndischen Wissen und großer Religiosität, Theolog und Jurist
zugleich. Er muß alle Bestimmungen, Entscheidungen nnd Judicate, welche iu den
102 Traktaten der Mischna und Gemara, sowie im Gesetzescompendinin „Schulchen-
Aruch" enthalten sind, nebst den zahllosen Commentaren genau kennen und sie auf alle
Verhältnisse des Lebens, in denen man sich an ihn wendet, anwenden können. Er ist
Richter und Geistlicher; er entscheidet kurz und endgiltig über alle mündlich vorgebrachten
rituellen Fragen und eommercielle Streitigkeiten ohne viele Kosten, Schreibereien und
Zeitvergeudung und diese Entscheidung wird von den Betheiligten respectirt. Seine Hand
glättet den Unfrieden in der Ehe oder löst den Knoten; er schlichtet den Streit zwischen
Geschäftsfreunden; er überwacht die Schächter und Fleischbänke, die Erzeugung des
Osterbrotes, entscheidet über die Genießbarkeit von Nahrungsmitteln, bei denen rituelle
Bedenken aufsteigen, und steht mit dem reichen Schatze seines Wissens jungen Ehefrauen
in delicaten Fragen als Gewifsensrath zur Seite. Ihm und dem Rabbiner steht bei
wichtigen Entscheidungen ein Assessorencollegium zur Seite, Alle gelehrt, Alle orthodox,
Alle schlecht bezahlt.
Eine nicht ganz bedeutungslose Gemeindefignr ist der Synagogendiener, welcher bei
allen traurigen oder freudigen Anlässen religiösen und rituellen Charakters sunctionirt,
gleich den türkischen Muezzins die Gläubigen zum Gebete ruft, den Eintritt des Sabbats
verkündet, zur Betheiligung an den Leichenbegängnissen hervorragender Personen öffentlich
aufruft, die Ordnung im Bethaus beaufsichtigt, die Gold- und Silbergeräthe, sowie die
Brokatporti'eren der Bundeslade aufbewahrt und die erforderlichen Anschaffungen besorgt.
Die in der Gemeinde, außer im Gottesdienste, herrschende Sprache ist der jüdisch-
deutsche Jargon, eine Sprache mit eigener, sehr kurzer, vou rechts uach links gehender
Schrift, aber ohne regelmäßige Formenbildnng und von willkürlicher Syntax, in welche
viele hebräische, slavische und romanische Wörter, oft corrumpirt eingestreut sind und in
der man altdeutsche Benennungen findet, die in der Umgangssprache nicht mehr gebräuchlich
sind, wie: Schwäher für Schwiegervater, Seiger für Uhr, Lailach für Leintuch, Mad für
Jungfrau, Schnnr für Schwiegertochter. In manchen von Inden dichtbevölkerten
Ortschaften, wie Brody, Kolomea, Tarnopol, bedienen sich sogar viele Christen in ihrem
Verkehre mit den unteren Schichten der Juden dieser Sprache. Es gibt absolut keinen
Juden, der nicht lesen und selten einen, der nicht schreiben könnte. Die gelehrten
Talmndisten stehen in hohem Ansehen und bilden den Adel, zu dem die Geldaristokratie
nicht hinanreicht. Diese Männer, zu denen ihre frommen Glaubensgenossen in Verehrung
emporblicken, enthalten sich in der Regel jeder geschäftlichen Thätigkeit, die sie vom Studium
und Gebet ablenken würde, denen sie ihr Leben weihen und das größte Lob, das ihnen
gespendet wird, ist, wenn man ihnen nachsagt, daß sie das circulireude Geld nicht kennen.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch