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Erwägung, wie es denn dazu hatte kommen können, daß drei Vierteljahrhnnderte
heroischer Anstrengungen und Opfer zu so einem jammervollen Resultate führten?
Diese Fragen, von hohen Geistern unter bitterster Herzensqnal erwogen, führten
zur Kenntnis und Beurtheilung der eigenen angeborenen Mängel und begangenen Fehler.
Es war ein mnthiger Einblick iy sich selbst, eine Gewissensprüfung, welcher Gegenwart
und Vergangenheit unterzogen werden mußte. Die Losung war „kenne dich selber";
das Ziel, die Lage politisch richtig zu beurtheilen, nach Maßgabe der vorhandenen Mittel
zu handeln, alle Geisteskräfte zu coneeutriren, um der ererbten Mängel loszuwerden, die
begangenen Fehler nicht mehr zu begehen, und auf diese Weise zu einer inneren Wieder-
geburt zu gelangen.
Dies ist die Hauptrichtung des polnischen Lebens seit dem Jahre 1863, folglich auch
die Hauptrichtung der Literatur in diesem Zeitranm. Selbstverständlich ist diese Tendenz
nicht überall homogen: sie variirt je nach Gesinnung und Überzeugung und schließt selbst
heftige, leidenschaftliche Gegensätze nicht aus. Doch begegnet sie, obwohl in verschiedener
Gestalt und Zusammensetzung, immer wieder, so daß sie als ein charakteristisches Kennzeichen
der Zeit angesehen werden mnß. Auch ist es ganz natürlich, daß sich diese Richtung weniger
in der Dichtkunst, als in der Prosa offenbart, und zwar in der politischen, wenn sie sich
mit der Gegenwart befaßt, in der Geschichte, wenn sie sich der Vergangenheit zuwendet.
Der Aufstand im Königreich Polen war noch nicht ganz zu Ende, als im Jahre 1864
Paul v. Popiel ein offenes Sendschreiben erscheinen ließ, in dem er aufforderte, den
Kampf als beendigt zu erklären und den Weg der Verschwörungen und geheimen Regie-
rungen ein für alle Male aufzugeben. Praktisch unheilvoll, sei derselbe principiell falsch,
mit einer gesunden Politik unvereinbar. Ganz dasselbe sagte der junge Graf Ludwig
Dxbicki in einer Brochnre, die er Polen in seiner Niederlage nannte. Derselbe ist
seither Mitredacteur des Ezas, Mann's Zögling und Nachfolger, Verfechter derselben
politischen und religiösen Grundsätze; unter seinen literarischen Arbeiten ist das vierbändige
Puiawy, eine Monographie der fürstlichen Czartoryski'schen Familie, besonders hervor-
zuheben. Im Jahre 1867 schrieb Josef Szujski seine Brochnre „Einige Wahrheiten
aus unserer Geschichte" (Xilka pra^vcl / dxiHc>vv nns^ck), die zu dem Schlüsse
gelangt, daß, was im unabhängigen Polen das l iberum vetc» war, in unserem Jahr-
hundert das I^iKerum (üonspii-o sei. Der individuelle Wille, Einfall und Leidenschaft
eines Einzelnen oder mehrerer Einzelner tritt im Namen der Gesammtheit auf, gerirt sich
als deren berechtigter Vertreter, nimmt ohne jede Verantwortlichkeit die Leitung der
Geschäfte und Geschicke in die Hand, und bringt sowie die einstige Republik zum Verfalle,
so das gegenwärtige Polen zu unersetzlichem Schaden. Die Brochnre wurde zum Programm
einer besonderen politischen Richtung.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Galizien, Volume 19
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Galizien
- Volume
- 19
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1898
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 16.48 x 22.34 cm
- Pages
- 920
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch