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DiefächsischeVolkslyrikhängtuuleugbarmitdem deutschen Volkslied zusammen. Sicher
ist, daß die meisten der jetzigen sächsischen Volkslieder zur Zeit der Reformation und seither
ans Deutschland herübergekommen sind. Ihrem Juhalt nach theilen sie sich in kirchliche,
geschichtliche, erotische und gesellige Lieder. Die kirchlichen Lieder hat die sächsische Volks-
poesie gewiß nicht geschaffen, sie sind sämmtlich dem deutschen Volke entlehnt. Auch an
geschichtlichen Liedern ist sie arm, schon weil das kleine Sachsenvolk keine so großen Helden
hervorbringen konnte, wie die historische Volksdichtung sie braucht. In den Liebesliedern
aber lebt der innigste Zusammenhang zwischen Natur und Liebe. Die Blumen spielen da
eine große Rolle. Der Rosenkranz ist das Symbol der Neigung zur Herzliebsten, der
Distelkranz das der Zurückweisung. Auch unter den Blumen ist die Rose, die Blume der
Blumen, die erste. Sehr beliebt siud aber auch das blaue Vergißmeinnicht und die Nelke.
Der Grundton dieser Liebeslieder ist in der Regel schwermttthig, was dem deutschen
Volkscharakter entspricht. Nicht nur das deutsche Volk, auch der Sachse kann sich mitten
in der Lustbarkeit von jenem unbestimmten Weh beschlichen fühlen, für das Heine so
bezeichnende Töne gefunden hat.
Zur vierten Classe des sächsischen Volksliedes zählen wir alle Lieder, die den Freudeu
des geselligen Lebens gewidmet sind, also Gelegenheitsgedichte, Festgesänge, Wein- und
Tanzlieder, Familien- und Kinderlieder. An diesen letzten ist die sächsische Volksdichtung
sehr reich. Besonderen Antheil nimmt das Volk an dem Schicksale der Stiefkinder und
Waisenmädchen. Das traurige Los des vou der Stiefmutter verfolgten oder des ganz
verwaisten Mädchens spiegelt sich in den ergreifenden Schilderungen dieser kurzen, meist
wirklich schönen Lieder. Die schluchzende Klage des Waisenmädchens am schneebedeckten
Grabhügel der Mutter, das herzbrechende Weinen des von der Stiefmutter eingesperrte»
Mägdleins, der Abschied der Verwaisten aus dem ihr entfremdeten Elternhause, ihr
Hinausirren in die Fremde bei Sturm und Schneetreiben, das Alles schildern diese Lieder
mit großer Innigkeit. Auch die Waise findet in ihrem Schmerz milde Tröster, den Banm,
in dessen Schatten sie ausruht, und die wärmende Sonne und den bunten Falter, der sie
umflattert, wenn auch herzlose Menschen sie von Thüre zu Thüre schicken. Das folgende
Liedchen aus der Mühlbacher Gegend mag als Beispiel dienen, wie Leid und Verlassenheit
der Mutterlosen in aller Schlichtheit einer naiven Kunst doch gar natürlich und mit fast
epigrammatischer Schärfe dargestellt wurden:
Et wör emöl e medchen,
et säs äm lechendirchen, dae mich hisch geweichen huot,
uch mich hisch gekämt huot,
en schri sich än det schirzken,
Medchen, woräm schräst te?
Äm menj güldig moter, wae en ris äm guorten,
dae des morjest afblaet
und des öwest zablaet.
Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
Ungarn (7), Volume 23
- Title
- Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild
- Subtitle
- Ungarn (7)
- Volume
- 23
- Editor
- Erzherzog Rudolf
- Publisher
- k.k. Hof- und Staatsdruckerei, Alfred von Hölder
- Location
- Wien
- Date
- 1902
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 15.13 x 23.25 cm
- Pages
- 622
- Keywords
- Enzyklopädie, Kronländer, Österreich-Ungarn
- Categories
- Kronprinzenwerk deutsch