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Seit mehr als zehn Jahren wird von verschiedenen Autorinnen und Autoren das Konzept einer „Netzgenera-
tion“ geprägt (zum Beispiel Tapscott, 1997; Prensky, 2001; Paloff & Pratt, 2003; Oblinger & Oblinger,
2005). Weitere greifen das Konzept im Zusammenhang mit eigenen Ausführungen zustimmend auf (für ei-
ne ausführlichere Übersicht Schulmeister, 2009, 36-37). Die Begrifflichkeiten und die Verwendung des
Konzepts sind im Detail unterschiedlich, allen gemeinsam sind jedoch die folgenden Thesen:
Die derzeit aufwachsenden Kinder und Jugendlichen haben ein weitgehend homogenes Mediennut-
zungsverhalten, das sich grundlegend von dem der Generationen vor ihnen unterscheidet.
Da sie in einer Zeit aufwachsen, die von einer weiten Verbreitung und Nutzung von digitalen Tech-
nologien gekennzeichnet ist, gehen sie selbstverständlich und kompetent mit den Technologien um.
Ihr Lernverhalten unterscheidet sich daher qualitativ von dem anderer Generationen und stellt unser
gesamtes Bildungssystem vor große Herausforderungen.
Am stärksten rezipiert wurde Marc Prensky (2001), der die Thesen der „Netzgeneration“ zusätzlich mit
dem plakativen Bild der ‚digitalen Eingeborenen‘ (engl. ‚digital natives‘) für die heutigen Kinder und Ju-
gendlichen beziehungsweise den ‚digitalen Einwanderern und Einwanderinnen‘ (engl. ‚digital immigrants‘)
für die – älteren – Erwachsenen belegt: Die „digitalen Eingeborenen“ bewegten sich mühelos und kompe-
tent wie ‚Muttersprachler/innen‘ in einer digitalen Welt der Computer, Videospiele und Internettechnologi-
en. Die ‚digitalen Einwanderer und Einwanderinnen‘ hingegen, ohne Computer und Internet aufgewachsen,
würden zeitlebens „mit Akzent“ sprechen, das heißt, im Umgang mit den digitalen Technologien immer
Anpassungsschwierigkeiten haben und weniger kompetent agieren. Zur Unterfütterung seines Bildes beruft
Prensky sich zusätzlich auf neurobiologische Erkenntnisse, die vermeintlich ergeben hätten, dass Kinder
und Jugendliche heute Informationen komplett anders verarbeiten und ihr Gehirn sich daher bereits auch
physisch verändert habe.
Dieses zugegebenermaßen wirkmächtige Bild ist besonders häufig in der mediendidaktischen Diskus-
sion als Argument genutzt worden, digitale Technologien, vor allem neue Webtechnologien, in Lehr- und
Lernsettings einzuführen.
Neben den zuvor skizzierten wird das Bild der „Netzgeneration“ zudem noch mit meist positiven Zu-
schreibungen an die Kinder und Jugendlichen auf der psychischen und sozialen Ebene dieser Generation
verbunden. Tapscott (1997) beispielsweise beschreibt die Kinder der „Netzgeneration“ als besonders neu-
gierig und aufnahmefähig, offen gegenüber ethnischen Minoritäten und selbstbewusster als frühere Genera-
tionen. Oblinger und Oblinger (2005) heben hervor, dass diese Kinder und Jugendlichen schnelle Reakti-
onszeiten hätten und diese auch von anderen erwarten, stärker visuell orientiert seien, Multitasking beherr-
schen würden, Interaktivität und Entdeckungen beim Lernen suchen. Wiederum andere interpretieren die
Konsequenzen des mediengeprägten Alltags weniger positiv und vermuten Aufmerksamkeitsstörungen und
andere negative Auswirkungen (zum Beispiel Opaschowski, 1999).
Manfred Dworschak schreibt im Spiegel 31/2010: "Schulmeister, ein Experte für digitale Medien im
Unterricht, muss es wissen: Er hat sich gerade durch mehr als 70 einschlägige Studien aus aller Welt ge-
ackert. Auch er kommt zu dem Schluss, dass das Internet keineswegs die Herrschaft über die Lebenswelt
übernommen habe. ‚Nach wie vor machen die Medien nur einen Teil der Freizeitaktivitäten aus‘, sagt er,
‚und das Internet ist nur ein Medium unter anderen. Für Jugendliche ist es immer noch wichtiger, Freunde
zu treffen oder Sport zu treiben.‘
Was ist nun dran am Bild der „Netzgeneration“? Auf welcher empirischen Basis beruht das Konzept?
Deckt es sich mit den Ergebnissen aktueller Studien zum Mediennutzungsverhalten von Kindern und Ju-
gendlichen? Die wissenschaftliche Debatte um den Wahrheitsgehalt des Konzepts der „Netzgeneration“ ist
Gegenstand des folgenden Abschnitts.
Um das zentrale Ergebnis vorweg zu nehmen: Die ‚Netzgeneration‘ kann einer wissenschaftlichen Über-
prüfung nicht standhalten. Sie erweist sich bei genauerer Betrachtung als unzulässige, stark überzeichnete
Generalisierung der Eigenschaften einzelner Subgruppen heutiger Kinder und Jugendlicher (Bennett et al.,
2007). Die Kritik am Konzept der „Netzgeneration“ liegt dabei auf verschiedenen Ebenen. Im deutsch-
sprachigen Raum hat sich Rolf Schulmeister (2009) mit einer mehrfach aktualisierten Internet-Publikation
detailliert der Kritik gewidmet. Im Wesentlichen werden folgende Punkte kritisiert (für eine detailliertere
Darstellung der Kritikpunkte Schulmeister, 2009):
L3T
Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien
- Title
- L3T
- Subtitle
- Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien
- Editor
- Martin Ebner
- Sandra Schön
- Publisher
- epubli GmbH
- Location
- Berlin
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 3.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 594
- Keywords
- L3T, online
- Category
- Lehrbücher
Table of contents
- Einleitung 1
- Einführung 11
- Von der Kreidetafel zum Tablet 27
- Die Geschichte des WWW 39
- Hypertext 51
- Geschichte des Fernunterrichts 65
- Informationssysteme 75
- Webtechnologien 89
- Multimediale und interaktive Materialien 99
- Standards für Lehr- und Lerntechnologien 109
- Human-Computer-Interaction 117
- Didaktisches Handeln 127
- Medienpädagogik 139
- Systeme im Einsatz 147
- Kommunikation und Moderation 157
- Forschungszugänge und -methoden 167
- Planung und Organisation 177
- Literatur und Information 185
- Die „Netzgeneration“ 201
- Multimedia und Gedächtnis 209
- Mobiles und ubiquitäres Lernen 217
- Prüfen mit Computer und Internet 227
- Blogging und Microblogging 239
- Vom Online-Skriptum zum E-Book 249
- Educasting 257
- Game-Based Learning 267
- Einsatz kollaborativer Werkzeuge 277
- Offene und partizipative Lernkonzepte 287
- Qualitätssicherung im E-Learning 301
- Offene Lehr- und Forschungsressourcen 311
- Lernen mit Videokonferenzen 319
- Simulationen und simulierte Welten 327
- Barrierefreiheit 343
- Genderforschung 355
- Zukunftsforschung 363
- Kognitionswissenschaft 373
- Diversität und Spaltung 387
- Lern-Service-Engineering 397
- Medientheorien 405
- Das Gesammelte interpretieren 413
- Wissensmanagement 421
- Sieht gut aus 427
- Urheberrecht & Co. in der Hochschullehre 435
- Interessen und Kompetenzen fördern 445
- Spielend Lernen im Kindergarten 455
- Technologieeinsatz in der Schule 465
- Technologie in der Hochschullehre 475
- Fernstudium an Hochschulen 483
- Webbasiertes Lernen in Unternehmen 489
- E-Learning in Organisationen 497
- Erwachsenen- und Weiterbildung 507
- Freie Online-Angebote für Selbstlernende 515
- Sozialarbeit 525
- Human- und Tiermedizin 531
- Online-Labore 539
- Mehr als eine Rechenmaschine 547
- Bildungstechnologien im Sport 557
- Fremdsprachen im Schulunterricht 569