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George Landow, Professor für englische Literatur und Kunstgeschichte an der Brown University, ist vie-
len seiner Fachkollegen hauptsächlich als Experte für das viktorianische Zeitalter bekannt. Seine Begeiste-
rung für Hypertexte begann mit dem Online-Kurs „The Victorian Web“, eine frei zugängliche Lernressour-
ce, die inzwischen über 40.000 Dokumente umfasst. In seinen Arbeiten zu Hypertext und Hypermedia be-
fasst er sich mit erkenntnistheoretischen Fragen, die mit dem Wandel von geschlossenen Autorensystemen
zu offenen, hypertextuellen Systemen einhergehen (Landow, 2006).
Brenda Laurel erweiterte in den 1990er Jahren unser Verständnis für das Medium Computer durch
Rückgriff auf die Aristotelische Dramentheorie. Ihre Dissertation prägte das Bild des „Computers als Büh-
ne“. Diese Metapher lenkt das Augenmerk weg von den Programmroutinen des Computers hin auf die
Handlung am Bildschirm aus der Perspektive der Benutzerinnen und Benutzer. In Laurels Theatermetapher
entspricht die grafische Benutzer/innen-Schnittstelle einer ‚Bühne’, auf der sich die Handlung vollzieht.
Die Technologie, die die Aufführung ermöglicht, ist selbst gar nicht sichtbar, sondern – wie im Theater –
‚hinter den Kulissen’ tätig. Wenn Personen mit einer Software (inter-)agieren, spielt sich eine Handlung ab,
bei der der Computer selbst als kommunikatives Gegenüber wahrgenommen wird. Aus Sicht der Benutze-
rinnen und Benutzer agiert das jeweilige Programm, was sich in Aussagen wie „Ich hab gar nichts gemacht,
er hat sich einfach ausgeschaltet“ oder „Word hat einen Fehler gefunden“ widerspiegelt. (#ant) Eine Aufga-
be des Interfacedesigns liegt darin, schlüssige Charaktere zu schaffen: „Computer-based agents, like drama-
tic characters, do not have to think [...]; they simply have to provide a representation from which thought
may be inferred“ (Laurel, 1993, 57). Bei der Gestaltung von Lerntechnologien können narrative Ansätze
und dramaturgische Inszenierungen die Interaktion mit der Lernumgebung authentischer, einfacher und an-
genehmer machen.
Mit der Inszenierung digitaler Welten und ihrem narrativen Potenzial hat sich in der Publikation „Ham-
let on the Holodeck“ (1997) Janet Murray befasst. Sie identifiziert vier grundsätzliche Eigenschaften digita-
ler Medien – Prozeduralität, Partizipation, Räumlichkeit, Enzyklopädik – , aus denen sie drei spezifische
Erlebnisqualitäten virtueller Umgebungen ableitet. Durch seine Prozeduralität ist ein Computer in der Lage,
Prozesse nicht nur abzubilden, sondern tatsächlich ablaufen zu lassen. Inhalte in einem digitalen Medium
können deswegen inhärent dynamisch sein, während traditionelle Medien ausschließlich statische Inhalte
verbreiten können. Die zweite Eigenschaft sind Partizipationsmöglichkeiten in digitalen Umgebungen.
Computeranwendungen erzeugen Interesse, weil ihre Aktionen potenziell beeinflussbar sind und die Nutze-
rinnen und Nutzer in ablaufende Prozesse eingreifen können. Als dritte Eigenschaft von digitalen Umge-
bungen führt Murray die Räumlichkeit an – digitale Medien bilden „Räume“ und „Umgebungen“, in denen
wir uns orientieren können. Murrays vierte Eigenschaft, die Enzyklopädik, zielt auf die Effizienz der Digi-
taltechnologie ab, für einen Menschen unübersehbare Mengen an Daten zu speichern, zu verarbeiten und
auch zu präsentieren.
Aus diesen Eigenschaften folgert Murray drei „pleasures“, also „Genüsse“ oder „Annehmlichkeiten“.
Sie beginnt mit der Immersion, also dem Gefühl des „Eintauchens in eine andere Welt“. Wenn die Hand-
lungen, die eine Person innerhalb einer digitalen Umgebung vollzieht, wahrnehmbare Folgen und Ergebnis-
se haben, dann erlebt die nutzende Person nach Murray den zweiten charakteristischen Genuss digitaler
Umgebungen: die sogenannte Agency. Der Begriff beschreibt den Grad, mit dem Dinge nach dem Willen
der Benutzerinnen und Benutzer innerhalb einer Umgebung gestaltbar sind. Die dritte von Murray identifi-
zierte Qualität digitaler Umgebungen ist die Transformation. So ist es in einer digitalen Umgebung mög-
lich, einen anderen Charakter anzunehmen und Facetten der eigenen Person weitgehend risikofrei zu explo-
rieren.
Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, Computer und Internet seien eigentlich nur Distributions-
kanäle für die traditionellen Medienformen Print, Audio und Video – es ist also nichts Neues, sondern „al-
ter Wein in neuen Schläuchen“, ein Vorwurf, dem sich die E-Learning-Didaktik mehrfach ausgesetzt sieht.
Der Germanist und Fachdidaktiker Bernd Switalla (2001) hat in seinen Arbeiten wiederholt erläutert, worin
sich die Lektüre zwischen zwei Buchdeckeln von der Navigation im Internet unterscheidet und was daraus
für die Produzenten von Lernmedien folgt. Schon lange bevor Hypertexttechnologien erfunden waren, wur-
den Texte geschrieben, die eine non-lineare Lektüre nahelegten. Dazu zählen Arno Schmitts „Zettels
Traum“, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ und Lichtenbergs „Sudelbuch“. Nichtsdestotrotz
macht es einen großen Unterschied, ob wir auf dem Bildschirm lesen oder auf dem Papier. Der französische
Historiker Roger Chartier bezeichnet dies als die „Materialität“ des Textes (Chartier & Cavallo, 1999). Des
Weiteren bewegen wir uns in Hypertexten in einem Verweisraum, den ein anderer über den Text gelegt hat
und welcher entsprechend assoziative Verknüpfungen der Autorinnen und Autoren widerspiegelt, die den
eigenen Ansprüchen und Erwartungen als Lesende oder „Nutzer/innen“ unter Umständen zuwiderlaufen.
Auch wenn eine Gestalterin oder ein Gestalter nicht mitteilt oder vielleicht selbst gar nicht ausdrücken
kann, worin der Sinn eines Hyperlinks besteht, so wird doch von den Lesenden erwartet, dass sie spüren
oder verstehen, auf welchen Pfaden der Hypertext sinnvoll zu erschließen sei.
L3T
Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien
- Title
- L3T
- Subtitle
- Lehrbuch für Lernen und Lehren mit Technologien
- Editor
- Martin Ebner
- Sandra Schön
- Publisher
- epubli GmbH
- Location
- Berlin
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 3.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 594
- Keywords
- L3T, online
- Category
- Lehrbücher
Table of contents
- Einleitung 1
- Einführung 11
- Von der Kreidetafel zum Tablet 27
- Die Geschichte des WWW 39
- Hypertext 51
- Geschichte des Fernunterrichts 65
- Informationssysteme 75
- Webtechnologien 89
- Multimediale und interaktive Materialien 99
- Standards für Lehr- und Lerntechnologien 109
- Human-Computer-Interaction 117
- Didaktisches Handeln 127
- Medienpädagogik 139
- Systeme im Einsatz 147
- Kommunikation und Moderation 157
- Forschungszugänge und -methoden 167
- Planung und Organisation 177
- Literatur und Information 185
- Die „Netzgeneration“ 201
- Multimedia und Gedächtnis 209
- Mobiles und ubiquitäres Lernen 217
- Prüfen mit Computer und Internet 227
- Blogging und Microblogging 239
- Vom Online-Skriptum zum E-Book 249
- Educasting 257
- Game-Based Learning 267
- Einsatz kollaborativer Werkzeuge 277
- Offene und partizipative Lernkonzepte 287
- Qualitätssicherung im E-Learning 301
- Offene Lehr- und Forschungsressourcen 311
- Lernen mit Videokonferenzen 319
- Simulationen und simulierte Welten 327
- Barrierefreiheit 343
- Genderforschung 355
- Zukunftsforschung 363
- Kognitionswissenschaft 373
- Diversität und Spaltung 387
- Lern-Service-Engineering 397
- Medientheorien 405
- Das Gesammelte interpretieren 413
- Wissensmanagement 421
- Sieht gut aus 427
- Urheberrecht & Co. in der Hochschullehre 435
- Interessen und Kompetenzen fördern 445
- Spielend Lernen im Kindergarten 455
- Technologieeinsatz in der Schule 465
- Technologie in der Hochschullehre 475
- Fernstudium an Hochschulen 483
- Webbasiertes Lernen in Unternehmen 489
- E-Learning in Organisationen 497
- Erwachsenen- und Weiterbildung 507
- Freie Online-Angebote für Selbstlernende 515
- Sozialarbeit 525
- Human- und Tiermedizin 531
- Online-Labore 539
- Mehr als eine Rechenmaschine 547
- Bildungstechnologien im Sport 557
- Fremdsprachen im Schulunterricht 569