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Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben umher die Einfassung macht,
die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des Orts;
das hat alles so was Anzügliches, was Schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß
ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen die Mädchen aus der Stadt und
holen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nötigste, das ehemals die
Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die
patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie, alle die Altväter, am
Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die Brunnen und
Quellen wohltätige Geister schweben. O der muß nie nach einer schweren
Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das
nicht mitempfinden kann.
Am 13. Mai
Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst?—lieber, ich bitte dich
um Gottes willen, laß mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet,
ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich
brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem
Homer. Wie oft lull’ ich mein empörtes Blut zur Ruhe, denn so ungleich, so
unstet hast du nichts gesehn als dieses Herz. Lieber! Brauch’ ich dir das zu
sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur
Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft
übergehen zu sehn? Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind;
jeder Wille wird ihm gestattet. Sage das nicht weiter; es gibt Leute, die mir es
verübeln würden.
Am 15. Mai
Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich,
besonders die Kinder. Eine traurige Bemerkung hab’ ich gemacht. Wie ich im
Anfange mich zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte über dies und das,
glaubten einige, ich wollte ihrer spotten, und fertigten mich wohl gar grob ab.
Ich ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt
habe, auf das lebhafteste : Leute von einigem Stande werden sich immer in
kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch
Annäherung zu verlieren; und dann gibt’s Flüchtlinge und üble Spaßvögel, die
sich herabzulassen scheinen, um ihren Übermut dem armen Volke desto
empfindlicher zu machen.
Ich weiß wohl, daß wir nicht gleich sind, noch sein können; aber ich halte
dafür, daß der, der nötig zu haben glaubt, vom so genannten Pöbel sich zu
entfernen, um den Respekt zu erhalten, ebenso tadelhaft ist als ein Feiger, der
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik