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Anziehen und allerlei Bestellungen fĂĽrs Haus in meiner Abwesenheit habe ich
vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von
niemanden Brot geschnitten haben als von mir”.
Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte
auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von
der Ăśberraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und
den Fächer zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von
der Seite an, und ich ging auf das jĂĽngste los, das ein Kind von der
glĂĽcklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich zurĂĽck, als eben Lotte zur
Türe herauskam und sagte:“Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand”.—das tat
der Knabe sehr freimĂĽtig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn,
ungeachtet seines kleinen Rotznäschens, herzlich zu küssen.
“Vetter?” sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte,” glauben Sie, daß ich
des Glücks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein?”—“O”, sagte sie mit einem
leichtfertigen Lächeln, “unsere Vetterschaft ist sehr weitläufig, und es wäre
mir leid, wenn Sie der schlimmste drunter sein sollten”.—Im Gehen gab sie
Sophien, der ältesten Schwester nach ihr, einem Mädchen von ungefähr elf
Jahren, den Auftrag, wohl auf die Kinder acht zu haben und den Papa zu
grüßen, wenn er vom Spazierritte nach Hause käme. Den Kleinen sagte sie,
sie sollten ihrer Schwester Sophie folgen, als wenn sie’s selber wäre, das denn
auch einige ausdrĂĽcklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber,
von ungefähr sechs Jahren, sagte: “du bist’s doch nicht, Lottchen, wir haben
dich doch lieber”.—die zwei ältesten Knaben waren hinten auf die Kutsche
geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis vor den Wald
mitzufahren, wenn sie versprächen, sich nicht zu necken und sich recht
festzuhalten.
Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt,
wechselsweise ĂĽber den Anzug, vorzĂĽglich ĂĽber die HĂĽte ihre Anmerkungen
gemacht und die Gesellschaft, die man erwartete, gehörig durchgezogen, als
Lotte den Kutscher halten und ihre BrĂĽder herabsteigen lieĂź, die noch einmal
ihre Hand zu küssen begehrten, das denn der älteste mit aller Zärtlichkeit, die
dem Alter von fĂĽnfzehn Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit
und Leichtsinn tat. Sie lieĂź die Kleinen noch einmal grĂĽĂźen, und wir fuhren
weiter.
Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig wäre, das sie ihr neulich
geschickt hätte.—“nein”, sagte Lotte,“es gefällt mir nicht, Sie können’s
wiederhaben. Das vorige war auch nicht besser”.—Ich erstaunte, als ich
fragte, was es für Bücher wären, und sie mir antwortete:—ich fand so viel
Charakter in allem, was sie sagte, ich sah mit jedem Wort neue Reize, neue
Strahlen des Geistes aus ihren GesichtszĂĽgen hervorbrechen, die sich nach
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik