Page - 19 - in Die Leiden des jungen Werthers
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gebt acht! Ich geh’ im Kreise herum von der Rechten zur Linken, und so zählt
ihr auch rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt, und das muĂź gehen
wie ein Lauffeuer, und wer stockt oder sich irrt, kriegt eine Ohrfeige, und so
bis tausend”.—nun war das lustig anzusehen: sie ging mit ausgestrecktem
Arm im Kreise herum. “Eins”, fing der erste an, der Nachbar “zwei”, “drei”
der folgende, und so fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen, immer
geschwinder; da versah’s einer: Patsch! Eine Ohrfeige, und über das
Gelächter der folgende auch: Patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst
kriegte zwei Maulschellen und glaubte mit innigem VergnĂĽgen zu bemerken,
daß sie stärker seien, als sie den übrigen zuzumessen pflegte. Ein allgemeines
Gelächter und Geschwärm endigte das Spiel, ehe noch das Tausend
ausgezählt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite, das Gewitter war
vorüber, und ich folgte Lotten in den Saal. Unterwegs sagte sie:”über die
Ohrfeigen haben sie Wetter und alles vergessen!”—ich konnte ihr nichts
antworten.—“ich war”, fuhr sie fort, “eine der Furchtsamsten, und indem ich
mich herzhaft stellte, um den andern Mut zu geben, bin ich mutig geworden”.
—Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen
säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle
einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestĂĽtzt, ihr
Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr
Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte:
“Klopstock!”—Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in
Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in
dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand
und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge
wieder—Edler! Hättest du deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen, und
möcht’ ich nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hören!
Am 19. Junius
Wo ich neulich mit meiner Erzählung geblieben bin, weiß ich nicht mehr;
das weiĂź ich, daĂź es zwei Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam, und daĂź,
wenn ich dir hätte vorschwatzen können, statt zu schreiben, ich dich vielleicht
bis an den Morgen aufgehalten hätte.
Was auf unserer Hereinfahrt vom Balle geschehen ist, habe ich noch nicht
erzählt, habe auch heute keinen Tag dazu.
Es war der herrlichste Sonnenaufgang. Der tröpfelnde Wald und das
erfrischte Feld umher! Unsere Gesellschafterinnen nickten ein. Sie fragte
mich, ob ich nicht auch von der Partie sein wollte; ihretwegen sollt’ ich
unbekümmert sein.—“So lange ich diese Augen offen sehe”, sagte ich und
sah sie fest an,“so lange hat’s keine Gefahr”.—Und wir haben beide
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik