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ausgehalten bis an ihr Tor, da ihr die Magd leise aufmachte und auf ihr Fragen
versicherte, daĂź Vater und Kleine wohl seien und alle noch schliefen. Da
verlieĂź ich sie mit der Bitte, sie selbigen Tags noch sehen zu dĂĽrfen; sie
gestand mir’s zu, und ich bin gekommen—und seit der Zeit können Sonne,
Mond und Sterne geruhig ihre Wirtschaft treiben, ich weiĂź weder daĂź Tag
noch daĂź Nacht ist, und die ganze Welt verliert sich um mich her.
Am 21. Junius
Ich lebe so glĂĽckliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen ausspart; und mit
mir mag werden was will, so darf ich nicht sagen, daĂź ich die Freuden, die
reinsten Freuden des Lebens nicht genossen habe.—du kennst mein
Wahlheim; dort bin ich völlig etabliert, von da habe ich nur eine halbe Stunde
zu Lotten, dort fühl’ ich mich selbst und alles Glück, das dem Menschen
gegeben ist.
Hätt’ ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergänge
wählte, daß es so nahe am Himmel läge! Wie oft habe ich das Jagdhaus, das
nun alle meine WĂĽnsche einschlieĂźt, auf meinen weiten Wanderungen, bald
vom Berge, bald von der Ebne ĂĽber den FluĂź gesehn!
Lieber Wilhelm, ich habe allerlei nachgedacht, ĂĽber die Begier im
Menschen, sich auszubreiten, neue Entdeckungen zu machen,
herumzuschweifen; und dann wieder ĂĽber den inneren Trieb, sich der
Einschränkung willig zu ergeben, in dem Gleise der Gewohnheit so
hinzufahren und sich weder um Rechts noch um Links zu bekĂĽmmern.
Es ist wunderbar: wie ich hierher kam und vom Hügel in das schöne Tal
schaute, wie es mich rings umher anzog.—dort das Wäldchen!—ach könntest
du dich in seine Schatten mischen!—dort die Spitze des Berges!—ach
könntest du von da die weite Gegend überschauen!—die in einander
geketteten Hügel und vertraulichen Täler!—o könnte ich mich in ihnen
verlieren!—ich eilte hin, und kehrte zurück, und hatte nicht gefunden, was ich
hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft! Ein großes dämmerndes
Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung verschwimmt darin wie
unser Auge, und wir sehnen uns, ach! Unser ganzes Wesen hinzugeben, uns
mit aller Wonne eines einzigen, groĂźen, herrlichen GefĂĽhls ausfĂĽllen zu
lassen.—und ach! Wenn wir hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, ist
alles vor wie nach, und wir stehen in unserer Armut, in unserer
Eingeschränktheit, und unsere Seele lechzt nach entschlüpftem Labsale.
So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem
Vaterlande und findet in seiner HĂĽtte, an der Brust seiner Gattin, in dem
Kreise seiner Kinder, in den Geschäften zu ihrer Erhaltung die Wonne, die er
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik