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Und wo liegt das Vorrecht?—weil wir älter sind und gescheiter!—guter Gott
von deinem Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts
weiter; und an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange
verkündigt. Aber sie glauben an ihn und hören ihn nicht—das ist auch was
Altes!—und bilden ihre Kinder nach sich und—Adieu, Wilhelm! Ich mag
darĂĽber nicht weiter radotieren.
Am 1. Julius
Was Lotte einem Kranken sein muß, fühl’ ich an meinem eigenen Herzen,
das ĂĽbler dran ist als manches, das auf dem Siechbette verschmachtet. Sie
wird einige Tage in der Stadt bei einer rechtschaffnen Frau zubringen, die sich
nach der Aussage der Ă„rzte ihrem Ende naht und in diesen letzten
Augenblicken Lotten um sich haben will. Ich war vorige Woche mir ihr, den
Pfarrer von St. zu besuchen; ein Örtchen, das eine Stunde seitwärts im
Gebirge liegt. Wir kamen gegen vier dahin. Lotte hatte ihre zweite Schwester
mitgenommen. Als wir in den mit zwei hohen Nußbäumen überschatteten
Pfarrhof traten, saĂź der gute alte Mann auf einer Bank vor der HaustĂĽr, und da
er Lotten sah, ward er wie neu belebt, vergaĂź seinen Knotenstock und wagte
sich auf, ihr entgegen. Sie lief hin zu ihm, nötigte ihn sich niederzulassen,
indem sie sich zu ihm setzte, brachte viele GrĂĽĂźe von ihrem Vater, herzte
seinen garstigen, schmutzigen jĂĽngsten Buben, das Quakelchen seines Alters.
Du hättest sie sehen sollen, wie sie den Alten beschäftigte, wie sie ihre
Stimme erhob, um seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden, wie sie
ihm von jungen, robusten Leuten erzählte, die unvermutet gestorben wären,
von der Vortrefflichkeit des Karlsbades, und wie sie seinen EntschluĂź lobte,
künftigen Sommer hinzugehen, wie sie fand, daß er viel besser aussähe, viel
munterer sei als das letztemal, da sie ihn gesehn.—ich hatte indes der Frau
Pfarrerin meine Höflichkeiten gemacht. Der Alte wurde ganz munter, und da
ich nicht umhin konnte, die schönen Nußbäume zu loben, die uns so lieblich
beschatteten, fing er an, uns, wiewohl mit einiger Beschwerlichkeit, die
Geschichte davon zu geben.—“den alten”, sagte er,“wissen wir nicht, wer den
gepflanzt hat; einige sagen dieser, andere jener Pfarrer. Der jĂĽngere aber dort
hinten ist so alt als meine Frau, im Oktober funfzig Jahr. Ihr Vater pflanzte ihn
des Morgens, als sie gegen Abend geboren wurde. Er war mein Vorfahr im
Amt, und wie lieb ihm der Baum war, ist nicht zu sagen; mir ist er’s gewiß
nicht weniger. Meine Frau saĂź darunter auf einem Balken und strickte, da ich
vor siebenundzwanzig Jahren als ein armer Student zum erstenmale hier in
den Hof kam”.—Lotte fragte nach seiner Tochter; es hieß, sie sei mit Herrn
Schmidt auf die Wiese hinaus zu den Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner
Erzählung fort: wie sein Vorfahr ihn liebgewonnen und die Tochter dazu, und
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik