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wie er erst sein Vikar und dann sein Nachfolger geworden. Die Geschichte
war nicht lange zu Ende, als die Jungfer Pfarrerin mit dem sogenannten Herrn
Schmidt durch den Garten herkam: sie bewillkommte Lotten mit herzlicher
Wärme, und ich muß sagen, sie gefiel mir nicht übel; eine rasche,
wohlgewachsene BrĂĽnette, die einen die kurze Zeit ĂĽber auf dem Lande wohl
unterhalten hätte. Ihr Liebhaber (denn als solchen stellte sich Herr Schmidt
gleich dar), ein feiner, doch stiller Mensch, der sich nicht in unsere Gespräche
mischen wollte, ob ihn gleich Lotte immer hereinzog. Was mich am meisten
betrĂĽbte, war, daĂź ich an seinen GesichtszĂĽgen zu bemerken schien, es sei
mehr Eigensinn und übler Humor als Eingeschränktheit des Verstandes, der
ihn sich mitzuteilen hinderte. In der Folge ward dies leider nur zu deutlich;
denn als Friederike beim Spazierengehen mit Lotten und gelegentlich auch
mit mir ging, wurde des Herrn Angesicht, das ohnedies einer bräunlichen
Farbe war, so sichtlich verdunkelt, daĂź es Zeit war, daĂź Lotte mich beim
Ă„rmel zupfte und mir zu verstehn gab, daĂź ich mit Friederiken zu artig getan.
Nun verdrieĂźt mich nichts mehr, als wenn die Menschen einander plagen, am
meisten, wenn junge Leute in der BlĂĽte des Lebens, da sie am offensten fĂĽr
alle Freuden sein könnten, einander die paar guten Tage mit Fratzen
verderben und nur erst zu spät das Unersetzliche ihrer Verschwendung
einsehen. Mich wurmte das, und ich konnte nicht umhin, da wir gegen Abend
in den Pfarrhof zurĂĽckkehrten und an einem Tische Milch aĂźen und das
Gespräch auf Freude und Leid der Welt sich wendete, den Faden zu ergreifen
und recht herzlich gegen die üble Laune zu reden.—“wir Menschen beklagen
uns oft”, fing ich an, “daß der guten Tage so wenig sind und der schlimmen so
viel, und, wie mich dĂĽnkt, meist mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes
Herz hätten, das Gute zu genießen, das uns Gott für jeden Tag bereitet, wir
wĂĽrden alsdann auch Kraft genug haben, das Ăśbel zu tragen, wenn es
kommt”. —“Wir haben aber unser Gemüt nicht in unserer Gewalt”, versetzte
die Pfarrerin, “wie viel hängt vom Körper ab! Wenn einem nicht wohl ist, ist’s
einem überall nicht recht”.—Ich gestand ihr das ein.—“Wir wollen es also”,
fuhr ich fort,“als eine Krankheit ansehen und fragen, ob dafür kein Mittel
ist?”—“Das läßt sich hören”, sagte Lotte, “ich glaube wenigstens, daß viel
von uns abhängt. Ich weiß es an mir. Wenn mich etwas neckt und mich
verdrießlich machen will, spring’ ich auf und sing’ ein paar Contretänze den
Garten auf und ab, gleich ist’s weg”.—“das war’s, was ich sagen
wollte,“versetzte ich,“es ist mit der üblen Laune völlig wie mit der Trägheit,
denn es ist eine Art von Trägheit. Unsere Natur hängt sehr dahin, und doch,
wenn wir nur einmal die Kraft haben, uns zu ermannen, geht uns die Arbeit
frisch von der Hand, und wir finden in der Tätigkeit ein wahres Vergnügen”.
—Friederike war sehr aufmerksam, und der junge Mensch wandte mir ein,
daĂź man nicht Herr ĂĽber sich selbst sei und am wenigsten ĂĽber seine
Empfindungen gebieten könne.—“es ist hier die Frage von einer
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik