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das du in blĂĽhenden Tagen untergraben hast, und sie nun daliegt in dem
erbärmlichsten Ermatten, das Auge gefühllos gen Himmel sieht, der
TodesschweiĂź auf der blassen Stirne abwechselt, und du vor dem Bette stehst
wie ein Verdammter, in dem innigsten GefĂĽhl, daĂź du nichts vermagst mit
deinem ganzen Vermögen, und die Angst dich inwendig krampft, daß du alles
hingeben möchtest, dem untergehenden Geschöpfe einen Tropfen Stärkung,
einen Funken Mut einflößen zu können”.
Die Erinnerung einer solchen Szene, wobei ich gegenwärtig war, fiel mit
ganzer Gewalt bei diesen Worten ĂĽber mich. Ich nahm das Schnupftuch vor
die Augen und verlieĂź die Gesellschaft, und nur Lottens Stimme, die mir rief,
wir wollten fort, brachte mich zu mir selbst. Und wie sie mich auf dem Wege
schalt ĂĽber den zu warmen Anteil an allem, und daĂź ich drĂĽber zugrunde
gehen würde! Daß ich mich schonen sollte!—O der Engel! Um deinetwillen
muĂź ich leben!
Am 6. Julius
Sie ist immer um ihre sterbende Freundin, und ist immer dieselbe, immer
das gegenwärtige, holde Geschöpf, das, wo sie hinsieht, Schmerzen lindert
und GlĂĽckliche macht. Sie ging gestern abend mit Marianen und dem kleinen
Malchen spazieren, ich wuĂźte es und traf sie an, und wir gingen zusammen.
Nach einem Wege von anderthalb Stunden kamen wir gegen die Stadt zurĂĽck,
an den Brunnen, der mir so wert und nun tausendmal werter ist. Lotte setzte
sich aufs Mäuerchen, wir standen vor ihr. Ich sah umher, ach, und die Zeit, da
mein Herz so allein war, lebte wieder vor mir auf.—“Lieber Brunnen”, sagte
ich, “seither hab’ ich nicht mehr an deiner Kühle geruht, hab’ in eilendem
Vorübergehn dich manchmal nicht angesehn”.—Ich blickte hinab und sah,
daß Malchen mit einem Glase Wasser sehr beschäftigt heraufstieg.—Ich sah
Lotten an und fĂĽhlte alles, was ich an ihr habe. Indem kommt Malchen mit
einem Glase. Mariane wollt’ es ihr abnehmen: “nein!” rief das Kind mit dem
süßesten Ausdrucke,“nein, Lottchen, du sollst zuerst trinken!”—ich ward über
die Wahrheit, ĂĽber die GĂĽte, womit sie das ausrief, so entzĂĽckt, daĂź ich meine
Empfindung mit nichts ausdrĂĽcken konnte, als ich nahm das Kind von der
Erde und kĂĽĂźte es lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen anfing.
—“Sie haben übel getan”, sagte Lotte.—Ich war betroffen.—“komm,
Malchen, “fuhr sie fort, indem sie es bei der Hand nahm und die Stufen
hinabführte, “da wasche dich aus der frischen Quelle geschwind, geschwind,
da tut’s nichts”.—Wie ich so dastand und zusah, mit welcher Emsigkeit das
Kleine seinen nassen Händchen die Backen rieb, mit welchem Glauben, daß
durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespĂĽlt und die Schmach
abgetan würde, einen häßlichen Bart zu kriegen; wie Lotte sagte: “es ist
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik