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Du wirst mir also nicht ĂĽbelnehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument
einräume und mich doch zwischen dem Entweder-Oder durchzustehlen suche.
Entweder, sagst du, hast du Hoffnung auf Lotten, oder du hast keine. Gut,
im ersten Fall suche sie durchzutreiben, suche die ErfĂĽllung deiner WĂĽnsche
zu umfassen: im anderen Fall ermanne dich und suche einer elenden
Empfindung los zu werden, die alle deine Kräfte verzehren muß.—Bester!
Das ist wohl gesagt, und—bald gesagt.
Und kannst du von dem UnglĂĽcklichen, dessen Leben unter einer
schleichenden Krankheit unaufhaltsam allmählich abstirbt, kannst du von ihm
verlangen, er solle durch einen DolchstoĂź der Qual auf einmal ein Ende
machen? Und raubt das Übel, das ihm die Kräfte verzehrt, ihm nicht auch
zugleich den Mut, sich davon zu befreien?
Zwar könntest du mir mit einem verwandten Gleichnisse antworten: wer
lieĂźe sich nicht lieber den Arm abnehmen, als daĂź er durch Zaudern und
Zagen sein Leben aufs Spiel setzte?—Ich weiß nicht!—Und wir wollen uns
nicht in Gleichnissen herumbeißen. Genug—ja, Wilhelm, ich habe manchmal
so einen Augenblick aufspringenden, abschüttelnden Muts, und da—wenn ich
nur wĂĽĂźte wohin, ich ginge wohl.
Abends
Mein Tagebuch, das ich seit einiger Zeit vernachlässiget, fiel mir heut
wieder in die Hände, und ich bin erstaunt, wie ich so wissentlich in das alles,
Schritt vor Schritt, hineingegangen bin! Wie ich ĂĽber meinen Zustand immer
so klar gesehen und doch gehandelt habe wie ein Kind, jetzt noch so klar
sehe, und es noch keinen Anschein zur Besserung hat.
Am 10. August
Ich könnte das beste, glücklichste Leben führen, wenn ich nicht ein Tor
wäre. So schöne Umstände vereinigen sich nicht leicht, eines Menschen Seele
zu ergetzen, als die sind, in denen ich mich jetzt befinde. Ach so gewiß ist’s,
daß unser Herz allein sein Glück macht. —ein Glied der liebenswürdigen
Familie zu sein, von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn, von den
Kleinen wie ein Vater, und von Lotten! —dann der ehrliche Albert, der durch
keine launische Unart mein Glück stört; der mich mit herzlicher Freundschaft
umfaßt; dem ich nach Lotten das Liebste auf der Welt bin!—Wilhelm, es ist
eine Freude, uns zu hören, wenn wir spazierengehen und uns einander von
Lotten unterhalten: es ist in der Welt nichts Lächerlichers erfunden worden als
dieses Verhältnis, und doch kommen mir oft darüber die Tränen in die Augen.
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik