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Wenn er mir von ihrer rechtschaffenen Mutter erzählt: wie sie auf ihrem
Todbette Lotten ihr Haus und ihre Kinder ĂĽbergeben und ihm Lotten
anbefohlen habe, wie seit der Zeit ein ganz anderer Geist Lotten belebt habe,
wie sie, in der Sorge fĂĽr ihre Wirtschaft und in dem Ernste, eine wahre Mutter
geworden, wie kein Augenblick ihrer Zeit ohne tätige Liebe, ohne Arbeit
verstrichen, und dennoch ihre Munterkeit, ihr leichter Sinn sie nie dabei
verlassen habe.—Ich gehe so neben ihm hin und pflücke Blumen am Wege,
füge sie sehr sorgfältig in einen Strauß und—werfe sie in den
vorüberfließenden Strom und sehe ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen.—
Ich weiĂź nicht, ob ich dir geschrieben habe, daĂź Albert hier bleiben und ein
Amt mit einem artigen Auskommen vom Hofe erhalten wird, wo er sehr
beliebt ist. In Ordnung und Emsigkeit in Geschäften habe ich wenig
seinesgleichen gesehen.
Am 12. August
GewiĂź, Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern
eine wunderbare Szene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied von
ihm zu nehmen; denn mich wandelte die Lust an, ins Gebirge zu reiten, von
woher ich dir auch jetzt schreibe, und wie ich in der Stube auf und ab gehe,
fallen mir seine Pistolen in die Augen.—“Borge mir die Pistolen”, sagte ich,
“zu meiner Reise”.—“Meinetwegen”, sagte er, “wenn du dir die Mühe
nehmen willst, sie zu laden; bei mir hängen sie nur pro forma”.—Ich nahm
eine herunter, und er fuhr fort: “seit mir meine Vorsicht einen so unartigen
Streich gespielt hat, mag ich mit dem Zeuge nichts mehr zu tun haben”.—Ich
war neugierig, die Geschichte zu wissen.—“Ich hielt mich”, erzählte er,
“wohl ein Vierteljahr auf dem Lande bei einem Freunde auf, hatte ein paar
Terzerolen ungeladen und schlief ruhig. Einmal an einem regnichten
Nachmittage, da ich müßig sitze, weiß ich nicht, wie mir einfällt: wir könnten
überfallen werden, wir könnten die Terzerolen nötig haben und könnten—du
weißt ja, wie das ist.—ich gab sie dem Bedienten, sie zu putzen und zu laden;
und der dahlt mit den Mädchen, will sie schrecken, und Gott weiß wie, das
Gewehr geht los, da der Ladstock noch drin steckt, und schieĂźt den Ladstock
einem Mädchen zur Maus herein an der rechten Hand und zerschlägt ihr den
Daumen. Da hatte ich das Lamentieren, und die Kur zu bezahlen obendrein,
und seit der Zeit lass’ ich alles Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist
Vorsicht? Die Gefahr läßt sich nicht auslernen! Zwar.—Nun weißt du, daß ich
den Menschen sehr lieb habe bis auf seine Zwar; denn versteht sich’s nicht
von selbst, daĂź jeder allgemeine Satz Ausnahmen leidet? Aber so rechtfertig
ist der Mensch! Wenn er glaubt, etwas Ăśbereiltes, Allgemeines, Halbwahres
gesagt zu haben, so hört er dir nicht auf zu limitieren, zu modifizieren und ab
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik