Page - 34 - in Die Leiden des jungen Werthers
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âund zuzutun, bis zuletzt gar nichts mehr an der Sache ist.
Und bei diesem Anlaà kam er sehr tief in Text: ich hörte endlich gar nicht
weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffahrenden GebĂ€rde drĂŒckte
ich mir die MĂŒndung der Pistole ĂŒbers rechte Augâ an die Stirn.ââPfui!â
sagte Albert, indem er mir die Pistole herabzog, âwas soll das?âââSie ist
nicht geladenâ, sagte ich.ââUnd auch so, was sollâs?â versetzte er
ungeduldig. âIch kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so töricht sein
kann, sich zu erschieĂen; der bloĂe Gedanke erregt mir Widerwillenâ.
âDaĂ ihr Menschenâ, rief ich aus, âum von einer Sache zu reden, gleich
sprechen mĂŒĂt: âdas ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös!â und was
will das alles heiĂen? Habt ihr deswegen die innern VerhĂ€ltnisse einer
Handlung erforscht? WiĂt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln,
warum sie geschah, warum sie geschehen muĂte? HĂ€ttet ihr das, ihr wĂŒrdet
nicht so eilfertig mit euren Urteilen seinâ. âDu wirst mir zugebenâ, sagte
Albert, âdaĂ gewisse Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen geschehen,
aus welchem Beweggrunde sie wollenâ. Ich zuckte die Achseln und gabâs ihm
zu.ââDoch, mein Lieberâ, fuhr ich fort, âfinden sich auch hier einige
Ausnahmen. Es ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster: aber der Mensch, der,
um sich und die Seinigen vom gegenwÀrtigen Hungertode zu erretten, auf
Raub ausgeht, verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein
auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und
ihren nichtswĂŒrdigen VerfĂŒhrer aufopfert? Gegen das MĂ€dchen, das in einer
wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert?
Unsere Gesetze selbst, diese kaltblĂŒtigen Pedanten, lassen sich rĂŒhren und
halten ihre Strafe zurĂŒckâ.
âDas ist ganz was andersâ, versetzte Albert, âweil ein Mensch, den seine
Leidenschaften hinreiĂen, alle Besinnungskraft verliert und als ein Trunkener,
als ein Wahnsinniger angesehen wirdâ. âAch ihr vernĂŒnftigen Leute!â rief ich
lĂ€chelnd aus. âLeidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so
ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker,
verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie
der PharisÀer, daà er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin
mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom
Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in einem MaĂe
begreifen lernen, wie man alle auĂerordentlichen Menschen, die etwas
GroĂes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher fĂŒr Trunkene und
Wahnsinnige ausschreiten muĂte. Aber auch im gemeinen Leben istâs
unertrÀglich, fast einem jeden bei halbweg einer freien, edlen, unerwarteten
Tat nachrufen zu hören: â der Mensch ist trunken, der ist nĂ€rrisch!â SchĂ€mt
euch, ihr NĂŒchternen! SchĂ€mt euch, ihr Weisen!â âDas sind nun wieder von
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik