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Die Leiden des jungen Werthers
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—und zuzutun, bis zuletzt gar nichts mehr an der Sache ist. Und bei diesem Anlaß kam er sehr tief in Text: ich hörte endlich gar nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffahrenden GebĂ€rde drĂŒckte ich mir die MĂŒndung der Pistole ĂŒbers rechte Aug’ an die Stirn.—“Pfui!” sagte Albert, indem er mir die Pistole herabzog, “was soll das?”—“Sie ist nicht geladen”, sagte ich.—“Und auch so, was soll’s?” versetzte er ungeduldig. “Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so töricht sein kann, sich zu erschießen; der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen”. “Daß ihr Menschen”, rief ich aus, “um von einer Sache zu reden, gleich sprechen mĂŒĂŸt: ‘das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös!’ und was will das alles heißen? Habt ihr deswegen die innern VerhĂ€ltnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte? HĂ€ttet ihr das, ihr wĂŒrdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein”. “Du wirst mir zugeben”, sagte Albert, “daß gewisse Handlungen lasterhaft bleiben, sie mögen geschehen, aus welchem Beweggrunde sie wollen”. Ich zuckte die Achseln und gab’s ihm zu.—“Doch, mein Lieber”, fuhr ich fort, “finden sich auch hier einige Ausnahmen. Es ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster: aber der Mensch, der, um sich und die Seinigen vom gegenwĂ€rtigen Hungertode zu erretten, auf Raub ausgeht, verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib und ihren nichtswĂŒrdigen VerfĂŒhrer aufopfert? Gegen das MĂ€dchen, das in einer wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese kaltblĂŒtigen Pedanten, lassen sich rĂŒhren und halten ihre Strafe zurĂŒck”. “Das ist ganz was anders”, versetzte Albert, “weil ein Mensch, den seine Leidenschaften hinreißen, alle Besinnungskraft verliert und als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen wird”. “Ach ihr vernĂŒnftigen Leute!” rief ich lĂ€chelnd aus. “Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der PharisĂ€er, daß er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in einem Maße begreifen lernen, wie man alle außerordentlichen Menschen, die etwas Großes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher fĂŒr Trunkene und Wahnsinnige ausschreiten mußte. Aber auch im gemeinen Leben ist’s unertrĂ€glich, fast einem jeden bei halbweg einer freien, edlen, unerwarteten Tat nachrufen zu hören: ‘ der Mensch ist trunken, der ist nĂ€rrisch!’ SchĂ€mt euch, ihr NĂŒchternen! SchĂ€mt euch, ihr Weisen!” “Das sind nun wieder von 34
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Die Leiden des jungen Werthers
Title
Die Leiden des jungen Werthers
Author
Johann Wolfgang von Goethe
Date
1774
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
95
Categories
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