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deinen Grillen”, sagte Albert, “du überspannst alles und hast wenigstens hier
gewiß unrecht, daß du den Selbstmord, wovon jetzt die Rede ist, mit großen
Handlungen vergleichst: da man es doch für nichts anders als eine Schwäche
halten kann. Denn freilich ist es leichter zu sterben, als ein qualvolles Leben
standhaft zu ertragen”. Ich war im Begriff abzubrechen; denn kein Argument
bringt mich so aus der Fessung, als wenn einer mit einem unbedeutenden
Gemeinspruche angezogen kommt, wenn ich aus ganzem Herzen rede.
Doch faßte ich mich, weil ich’s schon oft gehört und mich öfter darüber
geärgert hatte, und versetzte ihm mit einiger Lebhaftigkeit: “Du nennst das
Schwäche? Ich bitte dich, laß dich vom Anscheine nicht verführen. Ein Volk,
das unter dem unerträglichen Joch eines Tyrannen seufzt, darfst du das
schwach heißen, wenn es endlich aufgärt und seine Ketten zerreißt? Ein
Mensch, der über dem Schrecken, daß Feuer sein Haus ergriffen hat, alle
Kräfte gespannt fühlt und mit Leichtigkeit Lasten wegträgt, die er bei
ruhigem Sinne kaum bewegen kann; einer, der in der Wut der Beleidigung es
mit sechsen aufnimmt und sie überwältig, sind die schwach zu nennen? Und,
mein Guter, wenn Anstrengung Stärke ist, warum soll die Überspannung das
Gegenteil sein?”—Albert sah mich an und sagte: “nimm mir’s nicht übel, die
Beispiele, die du gibst, scheinen hieher gar nicht zu gehören”.—“Es mag
sein”, sagte ich, “man hat mir schon öfters vorgeworfen, daß meine
Kombinationsart manchmal an Radotage grenze. Laßt uns denn sehen, ob wir
uns auf eine andere Weise vorstellen können, wie dem Menschen zu Mute
sein mag, der sich entschließt, die sonst angenehme Bürde des Lebens
abzuwerfen. Denn nur insofern wir mitempfinden, haben wir die Ehre, von
einer Sache zu reden”.
“Die menschliche Natur”, fuhr ich fort, “hat ihre Grenzen: sie kann Freude,
Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde,
sobald der überstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage, ob einer schwach oder
stark ist, sondern ob er das Maß seines Leidens ausdauern kann, es mag nun
moralisch oder körperlich sein. Und ich finde es ebenso wunderbar zu sagen,
der Mensch ist feige, der sich das Leben nimmt, als es ungehörig wäre, den
einen Feigen zu nennen, der an einem bösartigen Fieber stirbt”.
“Paradox! Sehr paradox!” rief Albert aus.—“Nicht so sehr, als du denkst”,
versetzte ich. “Du gibst mir zu, wir nennen das eine Krankheit zum Tode,
wodurch die Natur so angegriffen wird, daß teils ihre Kräfte verzehrt, teils so
außer Wirkung gesetzt werden, daß sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch
keine glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder
herzustellen fähig ist.
Nun, mein Lieber, laß uns das auf den Geist anwenden. Sich den Menschen
an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bei
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik