Page - 39 - in Die Leiden des jungen Werthers
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Anstrengung, jene unsäglichen Gelüste zurückzurufen, wieder auszusprechen,
hebt meine Seele über sich selbst und läßt mich dann das Bange des
Zustandes doppelt empfinden, der mich jetzt umgibt.
Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der
Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund
des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: Das ist! Da alles vorübergeht? Da
alles mit der Wetterschnelle vorüberrollt, so selten die ganze Kraft seines
Daseins ausdauert, ach, in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an
Felsen zerschmettert wird? Da ist kein Augenblick, der nicht dich verzehrte
und die Deinigen um dich her, kein Augenblick, da du nicht ein Zerstörer bist,
sein mußt; der harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Würmchen das
Leben, es zerrüttet ein Fußtritt die mühseligen Gebäude der Ameisen und
stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! Nicht die große,
seltne Not der Welt, diese Fluten, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben,
die eure Städte verschlingen, rühren mich; mir untergräbt das Herz die
verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen liegt; die nichts
gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so
taumle ich beängstigt. Himmel und Erde und ihre webenden Kräfte um mich
her: ich sehe nichts als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes
Ungeheuer.
Am 21. August
Umsonst strecke ich meine Arme nach ihr aus, morgens, wenn ich von
schweren Träumen aufdämmere, vergebens suche ich sie nachts in meinem
Bette, wenn mich ein glücklicher, unschuldiger Traum getäuscht hat, als säß’
ich neben ihr auf der Wiese und hielt’ ihre Hand und deckte sie mit tausend
Küssen. Ach, wenn ich dann noch halb im Taumel des Schlafes nach ihr tappe
und drüber mich ermuntere—ein Strom von Tränen bricht aus meinem
gepreßten Herzen, und ich weine trostlos einer finstern Zukunft entgegen.
Am 22. August
E ist ein Unglück, Wilhelm, meine tätigen Kräfte sind zu einer unruhigen
Lässigkeit verstimmt, ich kann nicht müßig sein und kann doch auch nichts
tun. Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der Natur, und die
Bücher ekeln mich an. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles. Ich
schwöre dir, manchmal wünschte ich, ein Tagelöhner zu sein, um nur des
Morgens beim Erwachen eine Aussicht auf den künftigen Tag, einen Drang,
eine Hoffnung zu haben. Oft beneide ich Alberten, den ich über die Ohren in
Akten begraben sehe, und bilde mir ein, mir wäre wohl, wenn ich an seiner
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik