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Am 20. Oktober 1771
Gestern sind wir hier angelangt. Der Gesandte ist unpaß und wird sich also
einige Tage einhalten. Wenn er nur nicht so unhold wäre, wär’ alles gut. Ich
merke, ich merke, das Schicksal hat mir harte Prüfungen zugedacht. Doch
guten Muts! Ein leichter Sinn trägt alles! Ein leichter Sinn? Das macht mich
zu lachen, wie das Wort in meine Feder kommt. O ein bißchen leichteres Blut
würde mich zum Glücklichsten unter der Sonne machen. Was! Da, wo andere
mit ihrem bißchen Kraft und Talent vor mir in behaglicher Selbstgefälligkeit
herumschwadronieren, verzweifle ich an meiner Kraft, an meinen Gaben?
Guter Gott, der du mir das alles schenktest, warum hieltest du nicht die Hälfte
zurück und gabst mir Selbstvertrauen und Genügsamkeit?
Geduld! Geduld! Es wird besser werden. Denn ich sage dir, Lieber, du hast
recht. Seit ich unter dem Volke alle Tage herumgetrieben werde und sehe, was
sie tun und wie sie’s treiben, stehe ich viel besser mit mir selbst. Gewiß, weil
wir doch einmal so gemacht sind, daß wir alles mit uns und uns mit allem
vergleichen, so liegt Glück oder Elend in den Gegenständen, womit wir uns
zusammenhalten, und da ist nichts gefährlicher als die Einsamkeit. Unsere
Einbildungskraft, durch ihre Natur gedrungen sich zu erheben, durch die
phantastischen Bilder der Dichtkunst genährt, bildet sich eine Reihe Wesen
hinauf, wo wir das unterste sind und alles außer uns herrlicher erscheint, jeder
andere vollkommner ist. Und das geht ganz natürlich zu. Wir fühlen so oft,
daß uns manches mangelt, und eben was uns fehlt, scheint uns oft ein anderer
zu besitzen, dem wir denn auch alles dazu geben, was wir haben, und noch
eine gewisse idealistische Behaglichkeit dazu. Und so ist der Glückliche
vollkommen fertig, das Geschöpf unserer selbst.
Dagegen, wenn wir mit all unserer Schwachheit und Mühseligkeit nur
gerade fortarbeiten, so finden wir gar oft, daß wir mit unserem Schlendern
und Lavieren es weiter bringen als andere mit ihrem Segeln und Rudern—und
—das ist doch ein wahres Gefühl seiner selbst, wenn man andern gleich oder
gar vorläuft.
Am 26. November
Ich fange an, mich insofern ganz leidlich hier zu befinden. Das beste ist,
daß es zu tun genug gibt; und dann die vielerlei Menschen, die allerlei neuen
Gestalten machen mir ein buntes Schauspiel vor meiner Seele. Ich habe den
Grafen C… kennen lernen, einen Mann, den ich jeden Tag mehr verehren
muß, einen weiten, großen Kopf, und der deswegen nicht kalt ist, weil er viel
übersieht; aus dessen Umgange so viel Empfindung für Freundschaft und
Liebe hervorleuchtet. Er nahm teil an mir, als ich einen Geschäftsauftrag an
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik