Page - 48 - in Die Leiden des jungen Werthers
Image of the Page - 48 -
Text of the Page - 48 -
Und daran seid ihr alle schuld, die ihr mich in das Joch geschwatzt und mir
so viel von Aktivität vorgesungen habt. Aktivität! Wenn nicht der mehr tut,
der Kartoffeln legt und in die Stadt reitet, sein Korn zu verkaufen, als ich, so
will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere abarbeiten, auf der ich nun
angeschmiedet bin.
Und das glänzende Elend, die Langeweile unter dem garstigen Volke, das
sich hier neben einander sieht! Die Rangsucht unter ihnen, wie sie nur wachen
und aufpassen, einander ein Schrittchen abzugewinnen; die elendesten,
erbärmlichsten Leidenschaften, ganz ohne Röckchen. Da ist ein Weib, zum
Exempel, die jedermann von ihrem Adel und ihrem Lande unterhält, so daß
jeder Fremde denken muß: das ist eine Närrin, die sich auf das bißchen Adel
und auf den Ruf ihres Landes Wunderstreiche einbildet.—Aber es ist noch
viel Ärger: eben das Weib ist hier aus der Nachbarschaft eine
Amtschreiberstochter.—Sieh, ich kann das Menschengeschlecht nicht
begreifen, das so wenig Sinn hat, um sich so platt zu prostituieren.
Zwar ich merke täglich mehr, mein Lieber, wie töricht man ist, andere nach
sich zu berechnen. Und weil ich so viel mit mir selbst zu tun habe und dieses
Herz so stürmisch ist—ach ich lasse gern die andern ihres Pfades gehen, wenn
sie mich auch nur könnten gehen lassen.
Was mich am meisten neckt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse.
Zwar weiß ich so gut als einer, wie nötig der Unterschied der Stände ist, wie
viel Vorteile er mir selbst verschafft: nur soll er mir nicht eben gerade im
Wege stehen, wo ich noch ein wenig Freude, einen Schimmer von GlĂĽck auf
dieser Erde genießen könnte. Ich lernte neulich auf dem Spaziergange ein
Fräulein von B. kennen, ein liebenswürdiges Geschöpf, das sehr viele Natur
mitten in dem steifen Leben erhalten hat. Wir gefielen uns in unserem
Gespräche, und da wir schieden, bat ich sie um Erlaubnis, sie bei sich sehen
zu dĂĽrfen. Sie gestattete mir das mit so vieler FreimĂĽtigkeit, daĂź ich den
schicklichen Augenblick kaum erwarten konnte, zu ihr zu gehen. Sie ist nicht
von hier und wohnt bei einer Tante im Hause. Die Physiognomie der Alten
gefiel mir nicht. Ich bezeigte ihr viel Aufmerksamkeit, mein Gespräch war
meist an sie gewandt, und in minder als einer halben Stunde hatte ich so
ziemlich weg, was mir das Fräulein nachher selbst gestand: daß die liebe
Tante in ihrem Alter Mangel von allem, kein anständiges Vermögen, keinen
Geist und keine StĂĽtze hat als die Reihe ihrer Vorfahren, keinen Schirm als
den Stand, in den sie sich verpalisadiert, und kein Ergetzen, als von ihrem
Stockwerk herab über die bürgerlichen Häupter wegzusehen. In ihrer Jugend
soll sie schön gewesen sein und ihr Leben weggegaukelt, erst mit ihrem
Eigensinne manchen armen Jungen gequält, und in den reifern Jahren sich
unter den Gehorsam eines alten Offiziers geduckt haben, der gegen diesen
48
back to the
book Die Leiden des jungen Werthers"
Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik