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Preis und einen leidlichen Unterhalt das eherne Jahrhundert mit ihr zubrachte
und starb. Nun sieht sie im eisernen sich allein und würde nicht angesehn,
wär’ ihre Nichte nicht so liebenswürdig.
Den 8. Januar 1772
Was das für Menschen sind, deren ganze Seele auf dem Zeremoniell ruht,
deren Dichten und Trachten jahrelang dahin geht, wie sie um einen Stuhl
weiter hinauf bei Tische Angelegenheit hätten: nein, vielmehr häufen sich die
Arbeiten, eben weil man über den kleinen Verdrießlichkeiten von
Beförderung der wichtigen Sachen abgehalten wird. Vorige Woche gab es bei
der Schlittenfahrt Händel, und der ganze Spaß wurde verdorben.
Die Toren, die nicht sehen, daß es eigentlich auf den Platz gar nicht
ankommt, und daß der, der den ersten hat, so selten die erste Rolle spielt! Wie
mancher König wird durch seinen Minister, wie mancher Minister durch
seinen Sekretär regiert! Und wer ist dann der Erste? Der, dünkt mich, der die
andern übersieht und so viel Gewalt oder List hat, ihre Kräfte und
Leidenschaften zu Ausführung seiner Plane anzuspannen.
Am 20. Januar
Ich muß Ihnen schreiben, liebe Lotte, hier in der Stube einer geringen
Bauernherberge, in die ich mich vor einem schweren Wetter geflüchtet habe.
Solange ich in dem traurigen Nest D… , unter dem fremden, meinem Herzen
ganz fremden Volke herumziehe, habe ich keinen Augenblick gehabt, keinen,
an dem mein Herz mich geheißen hätte, Ihnen zu schreiben; und jetzt in
dieser Hütte, in dieser Einsamkeit, in dieser Einschränkung, da Schnee und
Schloßen wider mein Fensterchen wüten, hier waren Sie mein erster Gedanke.
Wie ich hereintrat, überfiel mich Ihre Gestalt, Ihr Andenken, o Lotte! So
heilig, so warm! Guter Gott! Der erste glückliche Augenblick wieder.
Wenn Sie mich sähen, meine Beste, in dem Schwall von Zerstreuung! Wie
ausgetrocknet meine Sinne werden! Nicht einen Augenblick der Fülle des
Herzens, nicht eine selige Stunde! Nichts! Nichts! Ich stehe wie vor einem
Raritätenkasten und sehe die Männchen und Gäulchen vor mir herumrücken,
und frage mich oft, ob es nicht optischer Betrug ist. Ich spiele mit, vielmehr,
ich werde gespielt wie eine Marionette und fasse manchmal meinen Nachbar
an der hölzernen Hand und schaudere zurück. Des Abends nehme ich mir vor,
den Sonnenaufgang zu genießen, und komme nicht aus dem Bette; am Tage
hoffe ich, mich des Mondscheins zu erfreuen, und bleibe in meiner Stube. Ich
weiß nicht recht, warum ich aufstehe, warum ich schlafen gehe.
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik