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Danke fĂĽr deine beiden Briefe. Ich antwortete nicht, weil ich dieses Blatt
liegen ließ, bis mein Abschied vom Hofe da wäre; ich fürchtete, meine Mutter
möchte sich an den Minister wenden und mir mein Vorhaben erschweren.
Nun aber ist es geschehen, mein Abschied ist da. Ich mag euch nicht sagen,
wie ungern man mir ihn gegeben hat, und was mir der Minister schreibt—ihr
wĂĽrdet in neue Lamentationen ausbrechen. Der Erbprinz hat mir zum
Abschiede fĂĽnfundzwanzig Dukaten geschickt, mit einem Wort, das mich bis
zu Tränen gerührt hat; also brauche ich von der Mutter das Geld nicht, um das
ich neulich schrieb.
Am 5. Mai
Morgen gehe ich von hier ab, und weil mein Geburtsort nur sechs Meilen
vom Wege liegt, so will ich den auch wiedersehen, will mich der alten,
glücklich verträumten Tage erinnern. Zu eben dem Tore will ich hinein gehn,
aus dem meine Mutter mit mir heraus fuhr, als sie nach dem Tode meines
Vaters den lieben, vertraulichen Ort verließ, um sich in ihre unerträgliche
Stadt einzusperren. Adieu, Wilhelm, du sollst von meinem Zuge hören.
Am 9. Mai
Ich habe die Wallfahrt nach meiner Heimat mit aller Andacht eines
Pilgrims vollendet, und manche unerwarteten GefĂĽhle haben mich ergriffen.
An der großen Linde, die eine Viertelstunde vor der Stadt nach S… zu steht,
lieĂź ich halten, stieg aus und hieĂź den Postillon fortfahren, um zu FuĂźe jede
Erinnerung ganz neu, lebhaft, nach meinem Herzen zu kosten. Da stand ich
nun unter der Linde, die ehedem, als Knabe, das Ziel und die Grenze meiner
Spaziergänge gewesen. Wie anders! Damals sehnte ich mich in glücklicher
Unwissenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo ich fĂĽr mein Herz so viele
Nahrung, so vielen GenuĂź hoffte, meinen strebenden, sehnenden Busen
auszufĂĽllen und zu befriedigen. Jetzt komme ich zurĂĽck aus der weiten Welt
—o mein Freund, mit wie viel fehlgeschlagenen Hoffnungen, mit wie viel
zerstörten Planen!—Ich sah das Gebirge vor mir liegen, das tausendmal der
Gegenstand meiner Wünsche gewesen war. Stundenlang konnt’ ich hier sitzen
und mich hinüber sehnen, mit inniger Seele mich in den Wäldern, den Tälern
verlieren, die sich meinen Augen so freundlich-dämmernd darstellten; und
wenn ich dann um die bestimmte Zeit wieder zurĂĽck muĂźte, mit welchem
Widerwillen verließ ich nicht den lieben Platz!—Ich kam der Stadt näher, alle
die alten, bekannten Gartenhäuschen wurden von mir gegrüßt, die neuen
waren mir zuwider, so auch alle Veränderungen, die man sonst vorgenommen
hatte. Ich trat zum Tor hinein und fand mich doch gleich und ganz wieder.
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik