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Lieber, ich mag nicht ins Detail gehn; so reizend, als es mir war, so einförmig
würde es in der Erzählung werden. Ich hatte beschlossen, auf dem Markte zu
wohnen, gleich neben unserem alten Haus. Im Hingehen bemerkte ich, daß
die Schulstube, wo ein ehrliches altes Weib unsere Kindheit
zusammengepfercht hatte, in einen Kramladen verwandelt war. Ich erinnere
mich der Unruhe, der Tränen, der Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangst,
die ich in dem Loche ausgestanden hatte.—Ich tat keinen Schritt, der nicht
merkwürdig war. Ein Pilger im heiligen Lande trifft nicht so viele Stätten
religiöser Erinnerungen an, und seine Seele ist schwerlich so voll heiliger
Bewegung.—Noch eins für tausend. Ich ging den Fluß hinab, bis an einen
gewissen Hof; das war sonst auch mein Weg, und die Plätzchen, wo wir
Knaben uns übten, die meisten Sprünge der flachen Steine im Wasser
hervorzubringen. Ich erinnerte mich so lebhaft, wenn ich manchmal stand und
dem Wasser nachsah, mit wie wunderbaren Ahnungen ich es verfolgte, wie
abenteuerlich ich mir die Gegenden vorstellte, wo es nun hinflösse, und wie
ich da sobald Grenzen meiner Vorstellungskraft fand; und doch mußte das
weiter gehen, immer weiter, bis ich mich ganz in dem Anschauen einer
unsichtbaren Ferne verlor. —Sieh, mein Lieber, so beschränkt und so
glücklich waren die herrlichen Altväter! So kindlich ihr Gefühl, ihre
Dichtung! Wenn ulyß von dem ungemeßnen Meer und von der unendlichen
Erde spricht, das ist so wahr, menschlich, innig, eng und geheimnisvoll. Was
hilft mich’s, daß ich jetzt mit jedem Schulknaben nachsagen kann, daß sie
rund sei? Der Mensch braucht nur wenige Erdschollen, um drauf zu genießen,
weniger, um drunter zu ruhen. Nun bin ich hier, auf dem fürstlichen
Jagdschloß. Es läßt sich noch ganz wohl mit dem Herrn leben, er ist wahr und
einfach. Wunderliche Menschen sind um ihn herum, die ich gar nicht
begreife. Sie scheinen keine Schelmen und haben doch auch nicht das
Ansehen von ehrlichen Leuten. Manchmal kommen sie mir ehrlich vor, und
ich kann ihnen doch nicht trauen. Was mir noch leid tut, ist, daß er oft von
Sachen redet, die er nur gehört und gelesen hat, und zwar aus eben dem
Gesichtspunkte, wie sie ihm der andere vorstellen mochte. Auch schätzt er
meinen Verstand und meine Talente mehr als dies Herz, das doch mein
einziger Stolz ist, das ganz und alles Elendes. Ach, was ich weiß, kann jeder
wissen—mein Herz habe ich allein.
Am 25. Mai
Ich hatte etwas im Kopfe, davon ich euch nichts sagen wollte, bis es
ausgeführt wäre: jetzt, da nichts draus wird, ist es ebenso gut. Ich wollte in
den Krieg; das hat mir lange am Herzen gelegen. Vornehmlich darum bin ich
dem Fürsten hierher gefolgt, der General in ***schen Diensten ist. Auf einem
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik