Page - 60 - in Die Leiden des jungen Werthers
Image of the Page - 60 -
Text of the Page - 60 -
getraut; endlich gestand er mir auch mit SchĂĽchternheit, was sie ihm fĂĽr
kleine Vertraulichkeiten erlaubt, und welche Nähe sie ihm vergönnet. Er brach
zwei-, dreimal ab und wiederholte die lebhaftesten Protestationen, daĂź er das
nicht sage, um sie schlecht zu machen, wie er sich ausdrĂĽckte, daĂź er sie liebe
und schätze wie vorher, daß so etwas nicht über seinen Mund gekommen sei
und daĂź er es mir nur sage, um mich zu ĂĽberzeugen, daĂź er kein ganz
verkehrter und unsinniger Mensch sei.
—Und hier, mein Bester, fang’ ich mein altes Lied wieder an, das ich ewig
anstimmen werde: könnt’ ich dir den Menschen vorstellen, wie er vor mir
stand, wie er noch vor mir steht! Könnt’ ich dir alles recht sagen, damit du
fĂĽhltest, wie ich an seinem Schicksale teilnehme, teilnehmen muĂź! Doch
genug, da du auch mein Schicksal kennst, auch mich kennst, so weiĂźt du nur
zu wohl, was mich zu allen UnglĂĽcklichen, was mich besonders zu diesem
UnglĂĽcklichen hinzieht.
Da ich das Blut wieder durchlese, seh’ ich, daß ich das Ende der Geschichte
zu erzählen vergessen habe, das sich aber leicht hinzudenken läßt. Sie
erwehrte sich sein; ihr Bruder kam dazu, der ihn schon lange gehaĂźt, der ihn
schon lange aus dem Hause gewĂĽnscht hatte, weil er fĂĽrchtet, durch eine neue
Heirat der Schwester werde seinen Kindern die Erbschaft entgehn, die ihnen
jetzt, da sie kinderlos ist, schöne Hoffnungen gibt; dieser habe ihn gleich zum
Hause hinausgestoßen und einen solchen Lärm von der Sache gemacht, daß
die Frau, auch selbst wenn sie gewollt, ihn nicht wieder hätte aufnehmen
können. Jetzt habe sie wieder einen andern Knecht genommen, auch über den,
sage man, sei sie mit dem Bruder zerfallen, und man behaupte fĂĽr gewiĂź, sie
werde ihn heiraten, aber er sei fest entschlossen, das nicht zu erleben.
Was ich dir erzähle, ist nicht übertrieben, nichts verzärtelt, ja ich darf wohl
sagen, schwach, schwach hab’ ich’s erzählt, und vergröbert hab’ ich’s, indem
ich’s mit unsern hergebrachten sittlichen Worten vorgetragen habe.
Diese Liebe, diese Treue, diese Leidenschaft ist also keine dichterische
Erfindung. Sie lebt, sie ist in ihrer größten Reinheit unter der Klasse von
Menschen, die wir ungebildet, die wir roh nennen. Wir Gebildeten—zu
Nichts Verbildeten! Lies die Geschichte mit Andacht, ich bitte dich. Ich bin
heute still, indem ich das hinschreibe; du siehst an meiner Hand, daĂź ich nicht
so strudele und sudele wie sonst. Lies, mein Geliebter, und denke dabei, daĂź
es auch die Geschichte deines Freundes ist. Ja so ist mir’s gegangen, so wird
mir’s gehn, und ich bin nicht halb so brav, nicht halb so entschlossen als der
arme UnglĂĽckliche, mit dem ich mich zu vergleichen mich fast nicht getraue.
Am 5. September
60
back to the
book Die Leiden des jungen Werthers"
Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik