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Ach diese Lücke! Diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen
fühle!—Ich denke oft, wenn du sie nur einmal, nur einmal an dieses Herz
drücken könntest, diese ganze Lücke würde ausgefüllt sein.
Am 19. Oktober
Ja es wird mir gewiß, Lieber, gewiß und immer gewisser, daß an dem
Dasein eines Geschöpfes wenig gelegen ist, ganz wenig. Es kam eine
Freundin zu Lotten, und ich ging herein ins Nebenzimmer, ein Buch zu
nehmen, und konnte nicht lesen, und dann nahm ich eine Feder, zu schreiben.
Ich hörte sie leise reden; sie erzählten einander unbedeutende Sachen,
Stadtneuigkeiten: wie diese heiratet, wie jene krank, sehr krank ist.—“Sie hat
einen trocknen Husten, die Knochen stehn ihr zum Gesichte heraus, und
kriegt Ohnmachten; ich gebe keinen Kreuzer für ihr Leben.” Sagte die eine.
—“Der N. N. ist auch so Übel dran,” sagte Lotte.—“Er ist schon
geschwollen,” sagte die andere.—Und meine lebhafte Einbildungskraft
versetzte mich ans Bett dieser Armen; ich sah sie, mit welchem Widerwillen
sie dem Leben den Rücken wandten, wie sie—Wilhelm! Und meine
Weibchen redeten davon, wie man eben davon redet—daß ein Fremder stirbt.
—Und wenn ich mich umsehe und sehe das Zimmer an, und rings um mich
Lottens Kleider und Alberts Skripturen und diese Möbeln, denen ich nun so
befreundet bin, sogar diesem Dintenfaß, und denke: siehe, was du nun diesem
Hause bist! Alles in allem. Deine Freunde ehren dich! Du machst oft ihre
Freude, und deinem Herzen scheint es, als wenn es ohne sie nicht sein könnte;
und doch—wenn du nun gingst, wenn du aus diesem Kreise schiedest?
Würden sie, wie lange würden sie die Lücke fühlen, die dein Verlust in ihr
Schicksal reißt? Wie lange?—O, so vergänglich ist der Mensch, daß er auch
da, wo er seines Daseins eigentliche Gewißheit hat, da, wo er den einzigen
wahren Eindruck seiner Gegenwart macht, in dem Andenken, in der Seele
seiner Lieben, daß er auch da verlöschen, verschwinden muß, und das so
bald!
Am 27. Oktober
Ich möchte mir oft die Brust zerreißen und das Gehirn einstoßen, daß man
einander so wenig sein kann. Ach die Liebe, Freude, Wärme und Wonne, die
ich nicht hinzubringe, wird mir der andere nicht geben, und mit einem ganzen
Herzen voll Seligkeit werde ich den andern nicht beglücken, der kalt und
kraftlos vor mir steht.
Ich habe so viel, und die Emfpindung an ihr verschlingt alles; ich habe so
viel, und ohne sie wird mir alles zu Nichts.
Am 27. Oktober abends
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik