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Wenn ich nicht schon hundertmal auf dem Punkte gestanden bin, ihr um
den Hals zu fallen! Weiß der große Gott, wie einem das tut, so viele
Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu
dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit.
Greifen die Kinder nicht nach allem, was ihnen in den Sinn fällt?—Und ich?
Am 30. Oktober
Weiß Gott! Ich lege mich so oft zu Bette mit dem Wunsche, ja manchmal
mit der Hoffnung, nicht wieder zu erwachen: und morgens schlage ich die
Augen auf, sehe die Sonne wieder, und bin elend. O daß ich launisch sein
könnte, könnte die Schuld aufs Wetter, auf einen Dritten, auf eine
fehlgeschlagene Unternehmung schieben, so würde die unerträgliche Last des
Unwillens doch nur halb auf mir ruhen. Wehe mir! Ich fühle zu wahr, daß an
mir alle Schuld liegt—nicht Schuld! Genug, daß in mir die Quelle alles
Elendes verborben ist, wie ehemals die Quelle aller Seligkeiten. Bin ich nicht
noch ebenderselbe, der ehemals in aller Fülle der Empfindung
herumschwebte, dem auf jedem Tritte ein Paradies folgte, der ein Herz hatte,
eine ganze Welt liebevoll zu umfassen? Und dies Herz ist jetzt tot, aus ihm
fließen keine Entzückungen mehr, meine Augen sind trocken, und meine
Sinne, die nicht mehr von erquickenden Tränen gelabt werden, ziehen
ängstlich meine Stirn zusammen. Ich leide viel, denn ich habe verloren, was
meines Lebens einzige Wonne war, die heilige, belebende Kraft, mit der ich
Welten um mich schuf; sie ist dahin!—Wenn ich zu meinem Fenster hinaus an
den fernen Hügel sehe, wie die Morgensonne über ihn her den Nebel
durchbricht und den stillen Wiesengrund bescheint, und der sanfte Fluß
zwischen seinen entblätterten Weiden zu mir herschlängelt,—o! Wenn da
diese herrliche Natur so starr vor mir steht wie ein lackiertes Bildchen, und
alle die Wonne keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das
Gehirn pumpen kann, und der ganze Kerl vor Gottes Angesicht steht wie ein
versiegter Brunnen, wie ein verlechter Eimer. Ich habe mich oft auf den
Boden geworfen und Gott um Tränen gebeten, wie ein Ackersmann um
Regen, wenn der Himmel ehern über ihm ist und um ihn die Erde verdürstet.
Aber, ach, ich fühle es, Gott gibt Regen und Sonnenschein nicht unserm
ungestümen Bitten, und jene Zeiten, deren Andenken mich quält, warum
waren sie so selig, als weil ich mit Geduld seinen Geist erwartete und die
Wonne, die er über mich ausgoß, mit ganzem, innig dankbarem Herzen
aufnahm!
Am 8. November
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik