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Sie hat mir meine Exzesse vorgeworfen! Ach, mit so viel
Liebenswürdigkeit! Meine Exzesse, daß ich mich manchmal von einem Glase
Wein verleiten lasse, eine Bouteille zu trinken.—“Tun Sie es nicht!” sagte sie,
“denken Sie an Lotten!”—“Denken!” sagte ich, “brauchen Sie mir das zu
heißen? Ich denke!—Ich denke nicht! Sie sind immer vor meiner Seele. Heute
saß ich an dem Flecke, wo Sie neulich aus der Kutsche stiegen.”—Sie redete
was anders, um mich nicht tiefer in den Text kommen zu lassen. Bester, ich
bin dahin! Sie kann mit mir machen, was sie will.
Am 15. November
Ich danke dir, Wilhelm, für deinen herzlichen Anteil, für deinen
wohlmeinenden Rat und bitte dich, ruhig zu sein. Laß mich ausdulden, ich
habe bei aller meiner Müdseligkeit noch Kraft genug durchzusetzen. Ich ehre
die Religion, das weißt du, ich fühle, daß sie manchem Ermatteten Stab,
manchem Verschmachtenden Erquickung ist. Nur—kann sie denn, muß sie
denn das einem jeden sein? Wenn du die große Welt ansiehst, so siehst du
Tausende, denen sie es nicht war, Tausende, denen sie es nicht sein wird,
gepredigt oder ungepredigt, und muß sie mir es denn sein? Sagt nicht selbst
der Sohn Gottes, daß die um ihn sein würden, die ihm der Vater gegeben hat?
Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin? Wenn mich nun der Vater für sich
bahalten will, wie mir mein Herz sagt?—Ich bitte dich, lege das nicht falsch
aus; sieh nicht etwa Spott in diesen unschuldigen Worten; es ist meine ganze
Seele, die ich dir vorlege; sonst wollte ich lieber, ich hätte geschwiegen: wie
ich denn über alles das, wovon jedermann so wenig weiß als ich, nicht gern
ein Wort verliere. Was ist es anders als Menschenschicksal, sein Maß
auszuleiden, seinen Becher auszutrinken? —Und ward der Kelch dem Gott
vom Himmel auf seiner Menschenlippe zu bitter, warum soll ich großtun und
mich stellen, als schmeckte er mir süß? Und warum sollte ich mich schämen,
in dem schrecklichen Augenblick, da mein ganzes Wesen zwischen Sein und
Nichtsein zittert, da die Vergangenheit wie ein Blitz über dem finstern
Abgrunde der Zukunft leuchtet und alles um mich her versinkt und mit mir
die Welt untergeht? Ist es da nicht die Stimme der ganz in sich gedrängten,
sich selbst ermangelnden und unaufhaltsam hinabstürzenden Kreatur, in den
innern Tiefen ihrer vergebens aufarbeitenden Kräfte zu knirschen: “mein
Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?” und sollt’ ich mich des
Ausdruckes schämen, sollte mir es vor dem Augenblicke bange sein, da ihm
der nicht entging, der die Himmel zusammenrollt wie ein Tuch?
Am 21. November
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik