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Am 26. November
Manchmal sag’ ich mir: dein Schicksal ist einzig; preise die übrigen
glücklich—so ist noch keiner gequält worden.—Dann lese ich einen Dichter
der Vorzeit, und es ist mir, als säh’ ich in mein eignes Herz. Ich habe so viel
auszustehen! Ach, sind denn Menschen vor mir schon so elend gewesen?
Am 30. November
Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen! Wo ich hintrete, begegnet mir
eine Erscheinung, die mich aus aller Fassung bringt. Heute! O Schicksal! O
Menschheit!
Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine keine
Lust zu essen. Alles war Ă–de, ein naĂźkalter Abendwind blies vom Berge, und
die grauen Regenwolken zogen das Tal hinein. Von fern seh’ ich einen
Menschen in einem grĂĽnen, schlechten Rocke, der zwischen den Felsen
herumkrabbelte und Kräuter zu suchen schien. Als ich näher zu ihm kam und
er sich auf das Geräusch, das ich machte, herumdrehte, sah ich eine gar
interessante Physiognomie, darin eine stille Trauer den Hauptzug machte, die
aber sonst nichts als einen geraden guten Sinn ausdrĂĽckte; seine schwarzen
Haare waren mit Nadeln in zwei Rollen gesteckt, und die ĂĽbrigen in einen
starken Zopf geflochten, der ihm den RĂĽcken herunter hing. Da mir seine
Kleidung einen Menschen von geringem Stande zu bezeichnen schien,
glaubte ich, er würde es nicht übelnehmen, wenn ich auf seine Beschäftigung
aufmerksam wäre, und daher fragte ich ihn, was er suchte?—“Ich suche,”
antwortete er mit einem tiefen Seufzer, “Blumen—und finde keine.”—“Das
ist auch die Jahreszeit nicht.” sagte ich lächelnd. —“Es gibt so viele Blumen,”
sagte er, indem er zu mir herunterkam. “In meinem Garten sind Rosen und
Jelängerjelieber zweierlei Sorten, eine hat mir mein Vater gegeben, sie
wachsen wie Unkraut; ich suche schon zwei Tage darnach und kann sie nicht
finden. Da hauĂźen sind auch immer Blumen, gelbe und blaue und rote, und
das Tausendgüldenkraut hat ein schönes Blümchen. Keines kann ich finden.”
—Ich merkte was Unheimliches, und drum fragte ich durch einen Umweg:
“Was will er denn mit den Blumen?”—Ein wunderbares, zuckendes Lächeln
verzog sein Gesichte. “Wenn er mich nicht verraten will,” sagte er, indem er
den Finger auf den Mund drückte, “ich habe meinem Schatz einen Strauß
versprochen.”—“Das ist brav,” sagte ich.—“O! ” sagte er, “sie hat viel andere
Sachen, sie ist reich.”—“Und doch hat sie seinen Strauß lieb,” versetzte ich.
—“O!” fuhr er fort, “sie hat Juwelen und eine Krone.”—“Wie heißt sie
denn?”—“Wenn mich die Generalstaaten bezahlen wollten,” versetzte er, “ich
wär’ ein anderer Mensch! Ja, es war einmal eine Zeit, da mir es so wohl war!
Jetzt ist es aus mit mir. Ich bin nun.” Ein nasser Blick zum Himmel drückte
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik