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Gehen Sie! Ich bitte Sie, beruhigen Sie sich.” —Ich riß mich von ihr weg und
—Gott! Du siehst mein Elend und wirst es enden.
Am 6. Dezember
Wie mich die Gestalt verfolgt! Wachend und träumend füllt sie meine
ganze Seele! Hier, wenn ich die Augen schließe, hier in meiner Stirne, wo die
innere Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre schwarzen Augen. Hier! Ich kann
dir es nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen zu, so sind sie da; wie ein
Meer, wie ein Abgrund ruhen sie vor mir, in mir, füllen die Sinne meiner
Stirn.
Was ist der Mensch, der gepriesene Halbgott! Ermangeln ihm nicht eben da
die Kräfte, wo er sie am nötigsten braucht? Und wenn er in Freude sich
aufschwingt oder im Leiden versinkt, wird er nicht in beiden eben da
aufgehalten, eben da zu dem stumpfen, kalten Bewußtsein wieder
zurückgebracht, da er sich in der Fülle des Unendlichen zu verlieren sehnte?
Der Herausgeber an den Leser
Wie sehr wünscht’ ich, daß uns von den letzten merkwürdigen Tagen
unsers Freundes so viel eigenhändige Zeugnisse übrig geblieben wären, daß
ich nicht nötig hätte, die Folge seiner hinterlaßnen Briefe durch Erzählung zu
unterbrechen.
Ich habe mir angelegen sein lassen, genaue Nachrichten aus dem Munde
derer zu sammeln, die von seiner Geschichte wohl unterrichtet sein konnten;
sie ist einfach, und es kommen alle Erzählungen davon bis auf wenige
Kleinigkeiten miteinander überein; nur über die Sinnesarten der handelnden
Personen sind die Meinungen verschieden und die Urteile geteilt.
Was bleibt uns übrig, als dasjenige, was wir mit wiederholter Mühe
erfahren können, gewissenhaft zu erzählen, die von dem Abscheidenden
hinterlaßnen Briefe einzuschalten und das kleinste aufgefundene Blättchen
nicht gering zu achten; zumal da es so schwer ist, die eigensten, wahren
Triebfedern auch nur einer einzelnen Handlung zu entdecken, wenn sie unter
Menschen vorgeht, die nicht gemeiner Art sind.
Unmut und Unlust hatten in Werthers Seele immer tiefer Wurzel
geschlagen, sich fester untereinander verschlungen und sein ganzes Wesen
nach und nach eingenommen. Die Harmonie seines Geistes war völlig
zerstört, eine innerliche Hitze und Heftigkeit, die alle Kräfte seiner Natur
durcheinanderarbeitete, brachte die widrigsten Wirkungen hervor und ließ
ihm zuletzt nur eine Ermattung übrig, aus der er noch ängstlicher empor
strebte, als er mit allen Übeln bisher gekämpft hatte. Die Beängstigung seines
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik