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Herzens zehrte die übrigen Kräfte seines Geistes, seine Lebhaftigkeit, seinen
Scharfsinn auf, er ward ein trauriger Gesellschafter, immer unglücklicher, und
immer ungerechter, je unglücklicher er ward. Wenigstens sagen dies Alberts
Freunde; sie behaupten, daß Werther einen reinen, ruhigen Mann, der nun
eines lang gewünschten Glückes teilhaftig geworden, und sein Betragen, sich
dieses Glück auch auf die Zukunft zu erhalten, nicht habe beurteilen können,
er, der gleichsam mit jedem Tage sein ganzes Vermögen verzehrte, um an
dem Abend zu leiden und zu darben. Albert, sagen sie, hatte sich in so kurzer
Zeit nicht verändert, er war noch immer derselbige, den Werther so vom
Anfang her kannte, so sehr schätzte und ehrte. Er liebte Lotten über alles, er
war stolz auf sie und wünschte sie auch von jedermann als das herrlichste
Geschöpf anerkannt zu wissen. War es ihm daher zu verdenken, wenn er auch
jeden Schein des Verdachtes abzuwenden wünschte, wenn er in dem
Augenblicke mit niemand diesen köstlichen Besitz auch auf die unschuldigste
Weise zu teilen Lust hatte? Sie gestehen ein, daß Albert oft das Zimmer seiner
Frau verlassen, wenn Werther bei ihr war, aber nicht aus Haß noch Abneigung
gegen seinen Freund, sondern nur weil er gefühlt habe, daß dieser von seiner
Gegenwart gedrückt sei.
Lottens Vater war von einem Übel befallen worden, das ihn in der Stube
hielt, er schickte ihr seinen Wagen, und sie fuhr hinaus. Es war ein schöner
Wintertag, der erste Schnee war stark gefallen und deckte die ganze Gegend.
Werther ging ihr den andern Morgen nach, um, wenn Albert sie nicht
abzuholen käme, sie hereinzubegleiten.
Das klare Wetter konnte wenig auf sein trübes Gemüt wirken, ein dumpfer
Druck auf seiner Seele, die traurigen Bilder hatten sich bei ihm festgesetzt,
und sein Gemüt kannte keine Bewegung als von einem schmerzlichen
Gedanken zum andern.
Wie er mit sich in ewigem Unfrieden lebte, schien ihm auch der Zustand
andrer nur bedenklicher und verworrner, er glaubte, das schöne Verhältnis
zwischen Albert und seiner Gattin gestört zu haben, er machte sich Vorwürfe
darüber, in die sich ein heimlicher Unwille gegen den Gatten mischte.
Seine Gedanken fielen auch unterwegs auf diesen Gegenstand. “Ja, ja,”
sagte er zu sich selbst, mit heimlichem Zähneknirschen, “das ist der vertraute,
freundliche, zärtliche, an allem teilnehmende Umgang, die ruhige, dauernde
Treue! Sättigkeit ist’s und Gleichgültigkeit! Zieht ihn nicht jedes elende
Geschäft mehr an als die teure, köstliche Frau? Weiß er sein Glück zu
schätzen? Weiß er sie zu achten, wie sie es verdient? Er hat sie, nun gut, er hat
sie—ich weiß das, wie ich was anders auch weiß, ich glaube an den Gedanken
gewöhnt zu sein, er wird mich noch rasend machen, er wird mich noch
umbringen—und hat denn die Freundschaft zu mir Stich gehalten? Sieht er
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik