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nicht in meiner Anhänglichkeit an Lotten schon einen Eingriff in seine
Rechte, in meiner Aufmerksamkeit fĂĽr sie einen Stillen Vorwurf? Ich weiĂź es
wohl, ich fühl’ es, er sieht mich ungern, er wünscht meine Entfernung, meine
Gegenwart ist ihm beschwerlich.”
Oft hielt er seinen raschen Schritt an, oft stand er stille und schien
umkehren zu wollen; allein er richtete seinen Gang immer wieder vorwärts
und war mit diesen Gedanken und Selbstgesprächen endlich gleichsam wider
Willen bei dem Jagdhause angekommen.
Er trat in die TĂĽr, fragte nach dem Alten und nach Lotten, er fand das Haus
in einiger Bewegung. Der älteste Knabe sagte ihm, es sei drüben in Wahlheim
ein Unglück geschehn, es sei ein Bauer erschlagen worden!—Es machte das
weiter keinen Eindruck auf ihn.—Er trat in die Stube und fand Lotten
beschäftigt, dem Alten zuzureden, der ungeachtet seiner Krankheit hinüber
wollte, um an Ort und Stelle die Tat zu untersuchen. Der Täter war noch
unbekannt, man hatte den Erschlagenen des Morgens vor der HaustĂĽr
gefunden, man hatte MutmaĂźungen: der Entleibte war Knecht einer Witwe,
die vorher einen andern im Dienste gehabt, der mit Unfrieden aus dem Hause
gekommen war.
Da Werther dieses hörte, fuhr er mit Heftigkeit auf.—“Ist’s möglich!” rief
er aus, “ich muß hinüber, ich kann nicht einen Augenblick ruhn.”—Er eilte
nach Wahlheim zu, jede Erinnerung ward ihm lebendig, und er zweifelte nicht
einen Augenblick, daĂź jener Mensch die Tat begangen, den er so manchmal
gesprochen, der ihm so wert geworden war.
Da er durch die Linden muĂźte, um nach der Schenke zu kommen, wo sie
den Körper hingelegt hatten, entsetzt’ er sich vor dem sonst so geliebten
Platze. Jene Schwelle, worauf die Nachbarskinder so oft gespielt hatten, war
mit Blut besudelt. Liebe und Treue, die schönsten menschlichen
Empfindungen, hatten sich in Gewalt und Mord verwandelt. Die starken
Bäume standen ohne Laub und bereift, die schönen Hecken, die sich über die
niedrige Kirchhofmauer wölbten, waren entblättert, und die Grabsteine sahen
mit Schnee bedeckt durch die LĂĽcken hervor.
Als er sich der Schenke näherte, vor welcher das ganze Dorf versammelt
war, entstand auf einmal ein Geschrei. Man erblickte von fern einen Trupp
bewaffneter Männer, und ein jeder rief, daß man den Täter herbeiführe.
Werther sah hin und blieb nicht lange zweifelhaft. Ja, es war der Knecht, der
jene Witwe so sehr liebte, den er vor einiger Zeit mit dem stillen Grimme, mit
der heimlichen Verzweiflung umhergehend angetroffen hatte.
“Was hast du begangen, Unglücklicher!” rief Werther aus, indem er auf den
Gefangenen losging.—Dieser sah ihn still an, schwieg und versetzte endlich
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik