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Liebe zu ihr die heiligste, reinste, brüderlichste Liebe? Habe ich jemals einen
strafbaren Wunsch in meiner Seele gefühlt?—Ich will nicht beteuern—und
nun, Träume! O wie wahr fühlten die Menschen, die so widersprechende
Wirkungen fremden Mächten zuschrieben! Diese Nacht! Ich zittere, es zu
sagen, hielt ich sie in meinen Armen, fest an meinen Busen gedrückt, und
deckte ihren liebelispelnden Mund mit unendlichen Küssen; mein Auge
schwamm in der Trunkenheit des ihrigen! Gott! Bin ich strafbar, daß ich auch
jetzt noch eine Seligkeit fühle, mir diese glühenden Freuden mit voller
Innigkeit zurückzurufen? Lotte! Lotte!—Und mit mir ist es aus! Meine Sinne
verwirren sich, schon acht Tage habe ich keine Besinnungskraft mehr, meine
Augen sind voll Tränen. Ich bin nirgend wohl, und überall wohl. Ich wünsche
nichts, verlange nichts. Mir wäre besser, ich ginge.
Der Entschluß, die Welt zu verlassen, hatte in dieser Zeit, unter solchen
Umständen in Werthers Seele immer mehr Kraft gewonnen. Seit der
Rückkehr zu Lotten war es immer seine letzte Aussicht und Hoffnung
gewesen; doch hatte er sich gesagt, es solle keine übereilte, keine rasche Tat
sein, er wolle mit der besten Überzeugung, mit der möglichst ruhigen
Entschlossenheit diesen Schritt tun.
Seine Zweifel, sein Streit mit sich selbst blicken aus einem Zettelchen
hervor, das wahrscheinlich ein angefangener Brief an Wilhelm ist und ohne
Datum unter seinen Papieren gefunden worden:
Ihre Gegenwart, ihr Schicksal, ihre Teilnehmung an dem meinigen preßt
noch die letzten Tränen aus meinem versengten Gehirne. Den Vorhang
aufzuheben und dahinter zu treten! Das ist alles! Und warum das Zaudern und
Zagen? Weil man nicht weiß, wie es dahinten aussieht? Und man nicht
wiederkehrt? Und daß das nun die Eigenschaft unseres Geistes ist, da
Verwirrung und Finsternis zu ahnen, wovon wir nichts Bestimmtes wissen.
Endlich ward er mit dem traurigen Gedanken immer mehr verwandt und
befremdet und sein Vorsatz fest und unwiderruflich, wovon folgender
zweideutige Brief, den er an seinen Freund schrieb, ein Zeugnis abgibt.
Am 20. Dezember
Ich danke deiner Liebe, Wilhelm, daß du das Wort so aufgefangen hast. Ja,
du hast recht: mir wäre besser, ich ginge. Der Vorschlag, den du zu einer
Rückkehr zu euch tust, gefällt mir nicht ganz; wenigstens möchte ich noch
gern einen Umweg machen, besonders da wir anhaltenden Frost und gute
Wege zu hoffen haben. Auch ist mir es sehr lieb, daß du kommen willst, mich
abzuholen; verziehe nur noch vierzehn Tage, und erwarte noch einen Brief
von mir mit dem Weiteren. Es ist nötig, daß nichts gepflückt werde, ehe es
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik