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Morgen ins Zimmer zu kommen, bis er ihm rufen würde.
Montags früh, den einundzwanzigsten Dezember, schrieb er folgenden
Brief an Lotten, den man nach seinem Tode versiegelt auf seinem
Schreibtische gefunden und ihr überbracht hat, und den ich absatzweise hier
einrücken will, so wie aus den Umständen erhellet, daß er ihn geschrieben
habe.
“Es ist beschlossen, Lotte, ich will sterben, und das schreibe ich dir ohne
romantische überspannung, gelassen, an dem Morgen des Tages, an dem ich
dich zum letzten Male sehen werde. Wenn du dieses liesest, meine Beste,
deckt schon das kühle Grab die erstarrten Reste des Unruhigen,
Unglücklichen, der für die letzten Augenblicke seines Lebens keine größere
Süßigkeit weiß, als sich mit dir zu unterhalten. Ich habe eine schreckliche
Nacht gehabt und, ach, eine wohltätige Nacht. Sie ist es, die meinen
Entschluß befestiget, bestimmt hat: ich will sterben! Wie ich mich gestern von
dir riß, in der fürchterlichen Empörung meiner Sinne, wie sich alles das nach
meinem Herzen drängte und mein hoffnungsloses, freudeloses Dasein neben
dir in gräßlicher Kälte mich anpackte—ich erreichte kaum mein Zimmer, ich
warf mich außer mir auf meine Knie, und o Gott! Du gewährtest mir das
letzte Labsal der bittersten Tränen! Tausend Anschläge, tausend Aussichten
wüteten durch meine Seele, und zuletzt stand er da, fest, ganz, der letzte,
einzige Gedanke: ich will sterben!—ich legte mich nieder, und morgens, in
der Ruhe des Erwachens, steht er noch fest, noch ganz stark in meinem
Herzen: ich will sterben!—es ist nicht Verzweiflung, es ist Gewißheit, daß ich
ausgetragen habe, und daß ich mich opfere für dich. Ja, Lotte! Warum sollte
ich es verschweigen? Eins von uns dreien muß hinweg, und das will ich sein!
O meine Beste! In diesem zerrissenen Herzen ist es wütend
herumgeschlichen, oft—deinen Mann zu ermorden!—dich!—mich! —so sei
es denn!—wenn du hinaufsteigst auf den Berg, an einem schönen
Sommerabende, dann erinnere dich meiner, wie ich so oft das Tal heraufkam,
und dann blicke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der
Wind das hohe Gras im Scheine der sinkenden Sonne hin und her wiegt.—Ich
war ruhig, da ich anfing, nun, nun weine ich wie ein Kind, da alles das so
lebhaft um mich wird.—”
Gegen zehn Uhr rief Werther seinem Bedienten, und unter dem Anziehen
sagte er ihm, wie er in einigen Tagen verreisen würde, er solle daher die
Kleider auskehren und alles zum Einpacken zurecht machen; auch gab er ihm
Befehl, überall Kontos zu fordern, einige ausgeliehene Bücher abzuholen und
einigen Armen, denen er wöchentlich etwas zu geben gewohnt war, ihr
Zugeteiltes auf zwei Monate voraus zu bezahlen.
Er ließ sich das Essen auf die Stube bringen, und nach Tische ritt er hinaus
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik