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Ryno
Vorbei sind Wind und Regen, der Mittag ist so heiter, die Wolken teilen
sich. Fliehend bescheint den Hügel die unbeständige Sonne. Rötlich fließt der
Strom des Bergs im Tale hin. Süß ist dein Murmeln, Strom; doch süßer die
Stimme, die ich höre. Es ist Alpins Stimme, er bejammert den Toten. Sein
Haupt ist vor Alter gebeugt und rot sein tränendes Auge. Alpin, trefflicher
Sänger, warum allein auf dem schweigenden Hügel? Warum jammerst du wie
ein Windstoß im Walde, wie eine Welle am fernen Gestade?
Alpin
Meine Tränen, Ryno, sind für den Toten, meine Stimme für die Bewohner
des Grabs. Schlank bist du auf dem Hügel, schön unter den Söhnen der Heide.
Aber du wirst fallen wie Morar, und auf deinem Grabe wird der Trauernde
sitzen. Die Hügel werden dich vergessen, dein Bogen in der Halle liegen
ungespannt.
Du warst schnell, o Morar, wie ein Reh auf dem Hügel, schrecklich wie die
Nachtfeuer am Himmel. Dein Grimm war ein Sturm, dein Schwert in der
Schlacht wie Wetterleuchten über der Heide. Deine Stimme glich dem
Waldstrome nach dem Regen, dem Donner auf fernen Hügeln. Manche fielen
von deinem Arm, die Flamme deines Grimmes verzehrte sie. Aber wenn du
wiederkehrtest vom Kriege, wie friedlich war deine Stirne! Dein Angesicht
war gleich der Sonne nach dem Gewitter, gleich dem Monde in der
schweigenden Nacht, ruhig deine Brust wie der See, wenn sich des Windes
Brausen gelegt hat.
Eng ist nun deine Wohnung, finster deine Stätte! Mit drei Schritten mess’
ich dein Grab, o du, der du ehe so groß warst! Vier Steine mit moosigen
Häupten sind dein einziges Gedächtnis; ein entblätterter Baum, langes Gras,
das im Winde wispelt, deutet dem Auge des Jägers das Grab des mächtigen
Morars. Keine Mutter hast du, dich zu beweinen, kein Mädchen mit Tränen
der Liebe. Tot ist, die dich gebar, gefallen die Tochter von Morglan.
Wer auf seinem Stabe ist das? Wer ist es, dessen Haupt weiß ist vor Alter,
dessen Augen rot sind von Tränen? Es ist dein Vater, o Morar, der Vater
keines Sohnes außer dir. Er hörte von deinem Ruf in der Schlacht, er hörte
von zerstobenen Feinden; er hörte Morars Ruhm! Ach! Nichts von seiner
Wunde? Weine, Vater Morars, weine! Aber dein Sohn hört dich nicht. Tief ist
der Schlaf der Toten, niedrig ihr Kissen von Staube. Nimmer achtet er auf die
Stimme, nie erwacht er auf deinen Ruf. O wann wird es Morgen im Grabe, zu
bieten dem Schlummerer: Erwache!
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik