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Lebe wohl, edelster der Menschen, du Eroberer im Felde! Aber nimmer
wird dich das Feld sehen, nimmer der düstere Wald leuchten vom Glanze
deines Stahls. Du hinterließest keinen Sohn, aber der Gesang soll deinen
Namen erhalten, künftige Zeiten sollen von dir hören, hören von dem
gefallenen Morar.
Laut war die Trauer der Helden, am lautesten Armins berstender Seufzer.
Ihn erinnerte es an den Tod seines Sohnes, er fiel in den Tagen der Jugend.
Carmor saß nah bei dem Helden, der Fürst des hallenden Galmal. “Warum
schluchzet der Seufzer Armins?” sprach er, “was ist hier zu weinen? Klingt
nicht ein Lied und ein Gesang, die Seele zu schmelzen und zu ergetzen? Sie
sind wie sanfter Nebel, der steigend vom See aufs Tal sprüht, und die
blühenden Blumen füllet das Naß; aber die Sonne kommt wieder in ihrer
Kraft, und der Nebel ist gegangen. Warum bist du so jammervoll, Armin,
Herrscher des seeumflossenen Gorma?”
“Jammervoll! Wohl das bin ich, und nicht gering die Ursache meines Wehs.
—Carmor, du verlorst keinen Sohn, verlorst keine blühende Tochter; Colgar,
der Tapfere, lebt, und Annira, die schönste der Mädchen. Die Zweige deines
Hauses blühen, o Carmor; aber Armin ist der Letzte seines Stammes. Finster
ist dein Bett, o Daura! Dumpf ist dein Schlaf in dem Grabe—wann erwachst
du mit deinen Gesängen, mit deiner melodischen Stimme? Auf, ihr Winde des
Herbstes! Auf, stürmt über die finstere Heide! Waldströme, braust! Heult,
Ströme, im Gipfel der Eichen! Wandle durch gebrochene Wolken, o Mond,
zeige wechselnd dein bleiches Gesicht! Erinnre mich der schrecklichen
Nacht, da meine Kinder umkamen, da Arindal, der Mächtige, fiel, Daura, die
Liebe, verging.
“Daura, meine Tochter, du warst schön, schön wie der Mond auf den
Hügeln von Fura, weiß wie der gefallene Schnee, süß wie die atmende Luft!
Arindal, dein Bogen war stark, dein Speer schnell auf dem Felde, dein Blick
wie Nebel auf der Welle, dein Schild eine Feuerwolke im Sturme!
“Armar, berühmt im Kriege, kam und warb um Dauras Liebe; sie
widerstand nicht lange. Schön waren die Hoffnungen ihrer Freunde.”
Erath, der Sohn Odgals, grollte, denn sein Bruder lag erschlagen von
Armar. Er kam, in einen Schiffer verkleidet. Schön war sein Nachen auf der
Welle, weiß seine Locken vor Alter, ruhig sein ernstes Gesicht. “Schönste
Mädchen,” sagte er, “liebliche Tochter von Armin, dort am Felsen, nicht fern
in der See, wo die rote Frucht vom Baume herblinkt, dort wartet Armar auf
Daura: ich komme, seine Liebe zu führen über die rollende See.
Sie folgt’ ihm und rief nach Armar; nichts antwortete als die Stimme des
Felsens. “Armar! Mein Lieber! Mein Lieber! Warum ängstest du mich so?
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik