Page - 87 - in Die Leiden des jungen Werthers
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Höre, Sohn Arnarths! Höre! Daura ist’s, die dich ruft!
Erath, der Verräter, floh lachend zum Lande. Sie erhob ihre Stimme, rief
nach ihrem Vater und Bruder: “Arindal! Armin! Ist keiner, seine Daura zu
retten?”
Ihre Stimme kam ĂĽber die See. Arindal, mein Sohn, stieg vom HĂĽgel herab,
rauh in der Beute der Jagd, seine Pfeile rasselten an seiner Seite, seinen
Bogen trug er in der Hand, fĂĽnf schwarzgraue Doggen waren um ihn. Er sah
den kühnen Erath am Ufer, faßt’ und band ihn an die Eiche, fest umflocht er
seine Hüften, der Gefesselte füllte mit Ächzen die Winde.
Arindal betritt die Wellen in seinem Boote, Daura herĂĽber zu bringen.
Armar kam in seinem Grimme, drückt’ ab den grau befiederten Pfeil, er
klang, er sank in dein Herz, “o Arindal, mein Sohn! Statt Eraths, des
Verräters, kamst du um, das Boot erreichte den Felsen, er sank dran nieder
und starb. Zu deinen FĂĽĂźen floĂź deines Bruders Blut, welch war dein Jammer,
o Daura! Die Wellen zerschmettern das Boot. Armar stĂĽrzt sch in die See,
seine Daura zu retten oder zu sterben. Schnell stĂĽrmte ein StoĂź vom HĂĽgel in
die Wellen, er sank und hob sich nicht wieder.
Allein auf den seebespülten Felsen hört’ ich die Klagen meiner Tochter.
Viel und laut war ihr Schreien, doch konnt’ sie ihr Vater nicht retten. Die
ganze Nacht stand ich am Ufer, ich sah sie im schwachen Strahle des Mondes,
die ganze Nacht hört’ ich ihr Schreien, laut war der Wind, und der Regen
schlug scharf nach der Seite des Berges. Ihre Stimme ward schwach, ehe der
Morgen erschien, sie starb weg wie die Abendluft zwischen dem Grase der
Felsen. Beladen mit Jammer starb sie und lieĂź Armin allein! Dahin ist meine
Stärke im Kriege, gefallen mein Stolz unter den Mädchen.
Wenn die StĂĽrme des Berges kommen, wenn der Nord die Wellen
hochhebt, sitz’ ich am schallenden Ufer, schaue nach dem schrecklichen
Felsen. Oft im sinkenden Monde seh’ ich die Geister meiner Kinder, halb
dämmernd wandeln sie zusammen in traurigen Eintracht.”
Ein Strom von Tränen, der aus Lottens Augen brach und ihrem gepreßten
Herzen Luft machte, hemmte Werthers Gesang. Er warf das Papier hin, faĂźte
ihre Hand und weinte die bittersten Tränen. Lotte ruhte auf der andern und
verbarg ihre Augen ins Schnupftuch. Die Bewegung beider war fĂĽrchterlich.
Sie fĂĽhlten ihr eigenes Elend in dem Schicksale der Edlen, fĂĽhlten es
zusammen, und ihre Tränen vereinigten sich. Die Lippen und Augen Werthers
glĂĽhten an Lottens Arme; ein Schauer ĂĽberfiel sie; sie wollte sich entfernen,
und Schmerz und Anteil lagen betäubend wie Blei auf ihr. Sie atmete, sich zu
erholen, und bat ihn schluchzend fortzufahren, bat mit der ganzen Stimme des
Himmels! Werther zitterte, sein Herz wollte bersten, er hob das Blatt auf und
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik