Page - 88 - in Die Leiden des jungen Werthers
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las halb gebrochen:
“Warum weckst du mich, Frühlingsluft? Du buhlst und sprichst: ich betaue
mit Tropfen des Himmels! Aber die Zeit meines Welkens ist nahe, nahe der
Sturm, der meine Blätter herabstört! Morgen wird der Wanderer kommen,
kommen der mich sah in meiner Schönheit, ringsum wird sein Auge im Felde
mich suchen und wird mich nicht finden.—”
Die ganze Gewalt dieser Worte fiel über den Unglücklichen.
Er warf sich vor Lotten nieder in der vollen Verzweifelung, faßte ihre
Hände, drückte sie in seine Augen, wider seine Stirn, und ihr schien eine
Ahnung seines schrecklichen Vorhabens durch die Seele zu fliegen. Ihre
Sinne verwirrten sich, sie drückte seine Hände, drückte sie wider ihre Brust,
neigte sich mit einer wehmütigen Bewegung zu ihm, und ihre glühenden
Wangen berührten sich. Die Welt verging ihnen. Er schlang seine Arme um
sie her, preßte sie an seine Brust und deckte ihre zitternden, stammelnden
Lippen mit wütenden Küssen.—“Werther!” rief sie mit erstickter Stimme,
sich abwendend, “Werther!” und drückte mit schwacher Hand seine Brust von
der ihrigen; “Werther!” rief sie mit dem gefaßten Tone des edelsten Gefühles.
—Er widerstand nicht, ließ sie sich aus seinen Armen und warf sich unsinnig
vor sie hin.—Sie riß sich auf, und in ängstlicher Verwirrung, bebend zwischen
Liebe und Zorn, sagte sie: “Das ist das letzte Mal! Werther! Sie sehn mich
nicht wieder.” Und mit dem vollsten Blick der Liebe auf den Elenden eilte sie
ins Nebenzimmer und schloß hinter sich zu.—Werther streckte ihr die Arme
nach, getraute sich nicht, sie zu halten. Er lag an der Erde, den Kopf auf dem
Kanapee, und in dieser Stellung blieb er über eine halbe Stunde, bis ihn ein
Geräusch zu sich selbst rief. Es war das Mädchen, das den Tisch decken
wollte. Er ging im Zimmer auf und ab, und da er sich wieder allein sah, ging
er zur Türe des Kabinetts und rief mit leiser Stimme: “Lotte! Lotte! Nur noch
ein Wort! Ein Lebewohl!”—Sie schwieg.—Er harrte und bat und harrte; dann
riß er sich weg und rief: “lebe wohl, Lotte! Auf ewig lebe wohl!”
Er kam ans Stadttor. Die Wächter, die ihn schon gewohnt waren, ließen ihn
stillschweigend hinaus. Es stiebte zwischen Regen und Schnee, und erst
gegen eilfe klopfte er wieder. Sein Diener bemerkte, als Werther nach Hause
kam, daß seinem Herrn der Hut fehlte. Er getraute sich nicht, etwas zu sagen,
entkleidete ihn, alles war naß. Man hat nachher den Hut auf einem Felsen, der
an dem Abhange des Hügels ins Tal sieht, gefunden, und es ist unbegreiflich,
wie er ihn in einer finstern, feuchten Nacht, ohne zu stürzen, erstiegen hat.
Er legte sich zu Bette und schlief lange. Der Bediente fand ihn schreibend,
als er ihm den andern Morgen auf sein Rufen den Kaffee brachte. Er schrieb
folgendes am Briefe an Lotten:
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Die Leiden des jungen Werthers
- Title
- Die Leiden des jungen Werthers
- Author
- Johann Wolfgang von Goethe
- Date
- 1774
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 95
- Categories
- Weiteres Belletristik