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Forschung bestehe dabei darin, „die bestmögliche Evidenz für eine informierte
öffentliche Debatte zur Verfügung zu stellen“ (ebd.: 41).
Die Position Brezinkas ist allerdings innerhalb der Erziehungswissenschaft
keineswegs unwidersprochen geblieben. Neben grundlagentheoretischer Kri-
tik am einheitswissenschaftlichen Ansatz Poppers, die sich z.B. auf Jürgen Ha-
bermas’ Konzeption unterschiedlicher Erkenntnisinteressen stützen konnte
(vgl. Habermas 1974), galt die Kritik u.a. dem Umstand, dass bei Brezinka
ungeklärt bleibt, wie das Verhältnis zwischen der (als wertfrei angesehenen)
empirischen Erziehungswissenschaft und der Erörterung normativer Fragen in
Erziehungsphilosophie und praktischer Pädagogik genauer ausgestaltet wer-
den soll. Zu den ungelösten Problemen gehört z.B., dass die empirische Bil-
dungsforschung bzw. die Rezeption ihrer Ergebnisse unweigerlich auf norma-
tive Fragen stoßen, von denen in der Regel offenbleibt, wie sie einer rationalen
Entscheidung zugeführt werden sollen. So benennt z.B. Peter Zedler eine
Reihe von Kernfragen, die sich im Kontext von Vorhaben der Empirischen
Bildungsforschung immer wieder stellen:
„[W]elche Indikatoren werden von wem (zu welchem Zeitpunkt) ausgewählt, um die Leis-
tungsfähigkeit [des Bildungssystems; Anm. HCK] zu beobachten, zu kontrollieren und ggf.
daraufhin durch Maßnahmen zu verbessern“ und „wer [entscheidet] aufgrund welcher nor-
mativen Prämissen“ darüber, was jeweils als „‚wichtig‘, ‚wünschenswert‘, ‚zweckmäßig‘
und ‚zureichend‘“ angesehen wird (Zedler 2018: 43).
Daran wird deutlich, dass normative Fragen nicht völlig aus der empirischen
Forschung ausgeklammert werden können. In diesem Zusammenhang ist eine
Passage im Beitrag von Felicitas Thiel interessant, in der sie darauf hinweist,
dass das Postulat der Werturteilsfreiheit (im Sinne der Unterscheidung Pop-
pers) nur für den Begründungs-, nicht aber für den Entdeckungs- und Verwen-
dungszusammenhang wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung gelte (vgl.
Thiel 2018: 40). Der Verzicht auf normative Aussagen betrifft demzufolge nur
die methodisch rigorose Prüfung von Hypothesen (als das eigentliche ‚Kern-
geschäft‘ wissenschaftlicher Forschung im Sinne Poppers), aber weder das Zu-
standekommen bzw. die Auswahl solcher Hypothesen noch die Diskussion
über Konsequenzen aus den Ergebnissen von deren strenger Überprüfung.
Doch ähnlich wie bei Brezinkas Forderung nach einer strikten Trennung
von (empirischer) Erziehungswissenschaft, Erziehungsphilosophie und prakti-
scher Pädagogik bleibt auch bei Thiel offen, was aus dieser Feststellung folgt,
d.h. wie die Erörterung normativer Aspekte (wie z.B. der bei Zedler aufgeführ-
ten Fragen) gestaltet und wie die Rationalität dieser Erörterung bzw. entspre-
chender Entscheidungen gewährleistet werden sollen.
Statt die Erziehungswissenschaft vor die Wahl zu stellen, sich auf eine der
beiden konkurrierenden Seiten zu schlagen – also entweder auf normative Aus-
sagen oder auf das Wertfreiheitspostulat ganz zu verzichten –, könnte ein Aus-
weg aus dem Dilemma darin bestehen, den Widerstreit beider Positionen offen
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book Lernprozesse über die Lebensspanne - Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern"
Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Title
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Subtitle
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Authors
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Editor
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Size
- 14.7 x 21.0 cm
- Pages
- 190
- Category
- Lehrbücher