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aber im Lernvollzug umstrukturiert werden. Dies verursacht aber „nicht nur
den Gewinn einer neuen Perspektive, sondern gleichzeitig den Verlust der al-
ten“ (Meyer-Drawe 2012a: 16). Damit stellt sich die nur auf den ersten Blick
banale Frage, warum Menschen dann überhaupt umlernen sollten, wenn selbst
Entwicklungen zum Besseren, Prozesse der Ermächtigung mit Momenten der
Ohnmacht und des Verlustes vertrauter Ordnungen einhergehen. Die Überle-
gung rührt am Mythos der ausschließlich angenehmen und ausschließlich frei-
willigen Ereignishaftigkeit von Lern- und Bildungsprozessen. Erst Verunsi-
cherungen, Anfechtungen oder Aufhebungen des Vorwissens machen jene
Suchbewegung möglich, die zum Umlernen führt (vgl. Meyer-Drawe 1996:
88). Ein Kairos-Moment, ein günstiger Augenblick oder eine Irritation, die sich
als Überraschung oder Staunen zeigen kann, kann als Anstoß neuer Richtun-
gen, Ordnungen oder Diskurse dienen (vgl. Peterlini 2016b: 27). Wie Walden-
fels (1997) in seiner Topographie des Fremden beschreibt, ist das Fremde je-
nes, welches sich uns entzieht oder auf unsere gegebene Ordnung störend ein-
wirkt. Mit Verweis auf Kokemohr beschreibt Koller (2007) „Bildungsprozesse
als Transformation von Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses“
(ebd.: 69), die in Erfahrungen passieren, die nicht den bereits bekannten Welt-
und Selbstentwürfen entsprechen, sondern ihnen widerstehen (ebd.: 69). Me-
zirow (2000) beschreibt diese Fremdheitserfahrungen in seinem transformati-
ven Lernverständnis als „disorienting dilemmas“ (ebd.: 22). Diese Dilemmata-
Erfahrungen können eine Veränderung sogenannter „Frames of references“,
habitualisierter Rahmungen, veranlassen (persönlicher, psychologischer, sozi-
aler, kultureller, linguistischer, epistemischer, ontologischer Bedeutung), da
die bisherigen Rahmungen des Selbst- und Weltverständnisses nicht mehr aus-
reichend sind (vgl. ebd.: 23).
Die Möglichkeit der Überschreitung und des Anstoßens neuer Diskurse ist
potenziell transformativ und ermächtigend, setzt aber zugleich das Subjekt
selbst der Überschreitung und dem Überschritten-Werden in seinem bisherigen
Selbst- und Weltverständnis aus. Koller (2000), anschließend an Lyotard,
knüpft sein Bildungsverständnis an einer Pluralität von Diskursen an, welche
nicht das Subjekt ins Zentrum von Bildung setzen, sondern Prozesse, in denen
neue Diskurse hervorgebracht werden, welche wiederum offengehalten wer-
den (vgl. ebd.: 311). Stojanov (2006) beschreibt diesen Prozess als ein (Er)Fin-
den „von pluralen sich widerstreitenden Artikulations- und Diskursformen“
(ebd.: 44). Er spricht von einem existenzialen Entwurf als Grundmerkmal
menschlichen Lebens, dem die Möglichkeit der Überschreitung innewohnt
(vgl. ebd.: 45). Diesem Zusammenwirken von Grundbedingungen des
Menschseins und diskursiv hervorgebrachten Bedingtheiten des Subjekts im
Antworten auf Anforderungen und Anrufungen aus seiner Lebenswelt ist in
der pädagogischen Reflexion, Begleitung und Mitgestaltung von Lern- und
Bildungsprozessen Rechnung zu tragen. Es erfordert Anstrengungen, Lernen
als Erfahrung in seinem Vollzug überhaupt erst einmal wahrzunehmen, um
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Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Title
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Subtitle
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Authors
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Editor
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Size
- 14.7 x 21.0 cm
- Pages
- 190
- Category
- Lehrbücher