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ausgehend davon pädagogische Handlungs- und Gestaltungstheorien zu re-
flektieren, durchaus im Sinne eines Umlernens, das gesicherte Wissensbe-
stände (etwa von der Steuerbarkeit des Lernens oder der absoluten Autonomie
der Lernenden) preisgibt zugunsten einer Bereitschaft, sich neu verunsichern
zulassen.
Forschungsstil des „Miterfahrens“ – die Vignette
Wird Lernen als Erfahrung zwischen Selbst und Welt verstanden, ergibt sich
daraus die methodische Anforderung, Möglichkeiten des Verstehens von Er-
fahrungen auszuloten. Einen Zugang eröffnet die phänomenologische For-
schungshaltung in ihrem Verständnis von subjektiver und intersubjektiver
Wahrnehmung. Für Laing (1969) ist Erfahrung als Quelle der Theorie die „ein-
zige Evidenz“ (ebd.: 8), mit dem Dilemma, dass sich Erfahrungen – im Unter-
schied zu Verhalten – nicht beobachten lassen. Damit wären wir in unseren
Erfahrungen blind füreinander. Wohl aber können wir andere als Erfahrende
erfahren und uns mit ihnen in Verbindung setzen (ebd.: 8). Das Feld der Be-
ziehung zwischen Erfahrung und Erfahrung ist die „Intererfahrung“ (ebd.: 9).
„Ich kann nicht anders – ich muß versuchen, deine Erfahrung zu verstehen. Denn wenn ich
auch deine Erfahrung nicht erfahre, da sie unsichtbar (unkostbar, unfaßbar, unriechbar, un-
hörbar) für mich ist, so erfahre ich dich doch als Erfahrenden.“ (Ebd.: 10)
Wie etwas uns widerfährt und wie Dinge aufeinander reagieren, geht weiter als
reines Beobachten der Dinge und der Verhaltensweisen. Das Verhalten eines
Menschen wird, wenn ich mich in Beziehung setze, von mir erfahren, und wie
ich mich verhalte, wird zur Erfahrung eines anderen. „Aufgabe der Sozialphä-
nomenologie ist es, meine Erfahrung vom Verhalten des anderen in Beziehung
zu setzen zur Erfahrung des anderen von meinem Verhalten.“ (Ebd.: 8) Jedoch
ist die Beziehung des Verhaltens und der Erfahrung nicht äußerlich zu inner-
lich, sondern wird im Konzept der Leiblichkeit aufgehoben, das der dichoto-
men Teilung von Geist und Körper widerstrebt und den konkreten Menschen
in seiner Verbundenheit mit Mit- und Umwelt sieht: „Meine Erfahrung ist nicht
in meinem Kopf. Meine Erfahrung von diesem Zimmer ist draußen im Zim-
mer.“ (Ebd.: 13) Erfahrung ist leiblich, entzieht sich rationaler Kontrolle und
körperlicher Steuerbarkeit. Eine Theorie der Erfahrung ist nach Waldenfels
(2002) demnach als affektiv und leiblich zu verstehen. Erfahrung im phäno-
menologischen Sinne ist nicht, wie bei Dewey, als einheitlich zu verstehen,
sondern als pathisch und bruchhaft – als Widerfahrnis eben: „In der Erfahrung
selbst öffnen sich Spalten und Klüfte, in denen das Selbst sich von sich selbst
entfernt.“ (Waldenfels 2002: 204) Lernen als Erfahrung und Antwortgesche-
hen mündet demnach in die Theorie einer responsiven Leiblichkeit. Wir sind
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Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Title
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Subtitle
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Authors
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Editor
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Size
- 14.7 x 21.0 cm
- Pages
- 190
- Category
- Lehrbücher