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Lévinas’ Antlitz-Begegnung und Bubers Ich-Du-Philosophie sind Bezugsgrö-
ßen für Baumans (1995) postmoderne Ethik. In Auseinandersetzung mit Hei-
deggers Mitsein und Fürsein, welches eine Symmetrie von Beginn einer Be-
ziehung an impliziert (ebd.: 79f.), beschreibt Lévinas (1995) dieses Mitsein
und Fürsein auch unter dem Aspekt der Gleichgültigkeit oder als Freiheitsein-
schränkung der/des Anderen. Bauman (1995) denkt diese Überlegung in Be-
zug auf Lévinas weiter: „In einer moralischen Beziehung sind Ich und der An-
dere nicht austauschbar und können deshalb nicht zu einem pluralen Wir auf-
addiert werden.“ (Ebd.: 82) Die Einzigartigkeit und nicht die Generalisierbar-
keit, die eine moralische Beziehung bedingt, ist entscheidend (vgl. ebd.: 83).
Für Lévinas ist moralische Kollektivität ein Wahrnehmen der/des Anderen von
Angesicht zu Angesicht und kein Wir, das eine/einen Anderen neben sich stellt
(vgl. ebd.: 86). So stellt Bauman (1995) Sartres Verständnis von Selbst der
Selbstkonzeption von Lévinas gegenüber: Was bei Lévinas als Verbindung
auftritt, ist bei Sartre eine gebündelte Kraft gegen den Anderen, im Sinne einer
Subjektivität als Entfremdung:
„Mein Erwachen zu mir selbst (wenn Sartre eine solche Formulierung gebrauchte) würde
undenkbar sein, wenn nicht als ein Akt des Widerstandes. Ich kann nur ein Selbst, ein Ich
werden, wenn ich meine Kraft bündle gegen den Anderen, für die Freiheit kämpfe, die der
Andere bedroht. Für Sartre ist dieser Bruch die Geburtsstunde meiner Subjektivität. Subjek-
tivität ist Entfremdung… Nein, nicht so, sagt Lévinas. Das Selbst kann aus der Verbindung
geboren werden. Wenn ich mich zu dem anderen hinwende, werde ich einzig, der Eine, das
unersetzliche Selbst, das bin ich.“ (Ebd.: 120)
Ebenso wie Bauman die postmoderne oder fluide Moderne als ambivalent und
ungewiss beschreibt, sieht auch Welsch (2008) die Grunderfahrung der post-
modernen Moderne als radikale Pluralität und Unterschiedlichkeit der Lebens-
entwürfe. Wenn Heterogenität die Lebenswirklichkeit der Menschen be-
stimmt, wie können Andersheit und Verschiedenheit gesellschaftlich und bil-
dungstheoretisch gedeutet werden? Hier lässt sich der phänomenologische An-
satz von Sinnausfaltung anstelle von Engführung der Bedeutungen auch als
Prinzip der Ausdifferenzierung verstehen: Die Vignette als Einzeldarstellung
einer konkreten Szene in einer Klasse Jugendlicher mit Fluchterfahrung kann
in einem größeren Kontext gedeutet werden, ohne den Einzelfall dieser Deu-
tung unterzuordnen. Der in der Vignette eingefangene Moment (vgl. die Me-
tapher vom „Fliegenfangen in Erfahrungsräumen des Lernens“ in Peterlini
2016a: 291) wird in seiner Einzigartigkeit (und damit auch Fremdheit und un-
erschöpflichen Unerschließbarkeit) belassen; zugleich regt die Vignette ein
Nachdenken über Zusammenhänge und Bedingtheiten individuellen und ge-
sellschaftlichen Lebens und Lernens an. Partizipation und Teilhalbe fordern
die gesellschaftliche Anerkennung und Sichtbarkeit von Fähigkeiten und Ein-
zigartigkeit einer Person.
Eine „Pädagogik der Vielfalt“, wie Prengel (2006) ihr 1993 entwickeltes
Konzept in Auseinandersetzung mit Honneths Anerkennungstheorie benennt,
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Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Title
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Subtitle
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Authors
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Editor
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Size
- 14.7 x 21.0 cm
- Pages
- 190
- Category
- Lehrbücher