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transitiver Persönlichkeitsentwicklung, institutionelle Strukturen von interak-
tiven Prozessen unterscheiden. Die Schlüsselfrage zu einem angemessenen
Verständnis von Bildung ist: Wann beginnt und wann endet Bildung?
Siebentens: Ein zielgerichteter, also normativer Bildungsbegriff folgt ei-
nem bestimmten kulturpolitischem Wert zur Erreichung eines gewünschten
Verhaltens von Menschen, wozu stetig mehr Maßnahmen und Einrichtungen
organisiert wurden („allgemeinbildende“ Schulen). Erziehung und Schulung
sind somit normative Momente des Bildungsprozesses. Neben diesen allge-
meinen Bemühungen und Einrichtungen bestehen besondere Maßnahmen zur
Vermittlung von Wissen und Können im Bereich der gesellschaftlich organi-
sierten Arbeit, genannt Ausbildung („berufsbildende“ Schulen).
Derzeit richtet sich die bildungspolitische Aufmerksamkeit nahezu aus-
schließlich auf die Organisation von transitiver Bildung, weil sie als Instrument
zur Formierung von Arbeitskräften gesehen wird. In diesem Zusammenhang
verwendete Begriffe wie Bildungsexpansion7, Bildungsabschluss oder Bil-
dungsquote sind Schlagwörter der vorherrschenden transitiven Sicht auf Bil-
dung als Erziehung, Schulung und Ausbildung bzw. neuerdings als profitable
Ware (Kellermann 2016: 30ff.); sie sind zeitgeistige Handlungsorientierungen
zur angestrebten Verwertung menschlichen Arbeitsvermögens. Gleiches gilt
für die ursprünglich utilitaristisch eingeführte Aufforderung life long learn-
ing8.
Achtens: Sozialwissenschaftlich gesehen ist Bildung – worauf die Endung
des Begriffs hinweist – zuallererst ein Prozess9: die bereits pränatal begonnene
Entwicklung der Neugeborenen zu individuellen Personen. In gegenseitigen
Beziehungen mit ihrer Umwelt lernen sie zu fühlen, zu verstehen, zu wissen,
zu können, zu denken: Es „bilden“ sich (es entstehen) die Persönlichkeitsstruk-
turen. Doch auch das, was inhaltlich entsteht – also das jeweilige Fühlen, Wis-
sen, Können usw. – ist Bildung.
Ein sozialwissenschaftlicher Bildungsbegriff richtet sich dann auf Be-
schreibung, Analyse und Interpretation von Prozessen des Aufbaus und der
Entfaltung von Persönlichkeitsstrukturen unter gesellschaftlichem Einfluss. In
einer „Bildungswissenschaft“10 geht es also um das Verstehen der transitiven
und intransitiven Prozesse, in denen Persönlichkeitsstrukturen entstehen und
7 In der Zusammensetzung der beiden Substantive – wörtlich genommen – erscheint Bildung
gleich einem Gegenstand, der sich ausdehnt. Tatsächlich soll damit die Erweiterung organi-
sierter Schulung – insbesondere der sozial breitere Zugang zu den Hochschulen – gekenn-
zeichnet werden; vgl. FN 1.
8 Als wenn man nicht ohnehin durch Informationen und Herausforderungen täglich lernte, so
lange man nicht umnachtet ist.
9 Prozess ist Bildung wissenschaftlich nicht nur im Sinne einer Entwicklung (diachron), son-
dern auch als (synchrone) Interaktion von mindestens zwei Momenten: stimulierende transi-
tive Information und die Impulse verarbeitende intransitive Reaktion.
10 „In diesem Sinne vermag die noch zu inaugurierende Bildungswissenschaft ein Beispiel ab-
zugeben …“ (Kellermann 1969: 80).
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book Lernprozesse über die Lebensspanne - Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern"
Lernprozesse über die Lebensspanne
Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
Veröffentlicht mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Title
- Lernprozesse über die Lebensspanne
- Subtitle
- Bildung erforschen, gestalten und nachhaltig fördern
- Authors
- Monika Kastner
- Jasmin Donlic
- Barbara Hanfstingl
- Editor
- Elisabeth Jaksche-Hoffman
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-3-8474-1467-4
- Size
- 14.7 x 21.0 cm
- Pages
- 190
- Category
- Lehrbücher