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Formal betrachtet ist die dadurch gewährleistete Rahmung (das framing)
bestimmter Handlungssequenzen mittels symbolisch codierter Zeichen
das verlässlichste Merkmal zur konkreten Identifikation von Ritualen
(Michaels 2003). Vorsichtig bleibt Michaels in seinem Umriss des Ritual-
begriffs hinsichtlich der Reichweite des transzendierenden Charakters von
Ritualen.
Im Blick auf die Frage nach dem Zusammenhang von neuer Ritualkultur
und Macht ist nach wie vor die klassische These Émile Durkheims bedeut-
sam, der Rituale als „vordefinierte Handlungsweisen“1 (Durkheim 1994
[1912], 50) bezeichnet hat. Demnach entspreche es dem sozialen Streben
des Menschen, Handlungen interpersonal
„aufeinander abzustimmen, zu koordinieren, zu standardisieren und zu
wiederholen. […] Gemeinsames Handeln dieser Art erzeugt ein Gefühl
der Teilnahme an etwas Über-individuellem, etwas Transzendentem.
Menschen geben ihre individuellen Identitäten teilweise auf und werden
in einer ‚Gruppenidentität‘ aufgehoben. Dieses Gefühl der Teilnahme
an etwas Höherem nannte Durkheim ‚das Heilige‘ und die Symbole, die
dieses Gefühl bezeichneten, wurden zu heiligen oder religiösen Sym-
bolen. In Wirklichkeit repräsentieren sie die Existenz und die Solidarität
der Gemeinschaft als solcher. Aus diesem Grund nannte Durk heim sie
‚kollektive Repräsentationen‘.“ (Krieger/Belliger 2013 [1998], 15; vgl.
Durkheim 1981 [1912])
Es zeigt sich gegenwärtig, dass die bei Durkheim noch religiös eingebettete
Semantik rituellen Handelns nicht nur intellektuell, sondern auch prag-
matisch, d. h. in der lebensweltlichen Situierung von Ritualen, deutlich re-
lativiert ist. Unabhängig davon besteht die transzendierende, Sinn konstru-
ierende und Geltung erzeugende Kraft ritueller Kommunikation ungebro-
chen weiter. Von diesem Punkt aus lässt sich feststellen, dass die ehedem
religiös fundierte Macht des Rituellen – zur Herstellung, Stabilisierung
und Ausdifferenzierung einer geordneten Gruppenidentität – gegenwärtig
sowohl innerhalb religiöser bzw. kirchlicher Systeme wie auch in säkularen
Kontexten in plurale, posttraditionale Orte diffundiert. Soziale und grup-
penspezifische Parameter spielen hier nach wie vor eine Rolle, allerdings
nicht mehr in traditionell hierarchischen Geltungsmustern, sondern unter
dem Vorzeichen mehr oder weniger expliziter individueller Zustimmung
bzw. Mitgestaltung. Diese Praxisorte können lokal begrenzt sein – z. B. in
Form subkultureller, regionaler Eigenständigkeit ritueller Praktiken – sie
Peter Ebenbauer und Isabelle Jonveaux | Zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung
1 Im Original: „Modes d’action
déterminés“ (Übers. I.J.).
Limina
Grazer theologische Perspektiven, Volume 1:1
- Title
- Limina
- Subtitle
- Grazer theologische Perspektiven
- Volume
- 1:1
- Editor
- Karl Franzens University Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 4.0
- Size
- 21.4 x 30.1 cm
- Pages
- 236
- Categories
- Zeitschriften LIMINA - Grazer theologische Perspektiven